Schweiz: SVP-Initiative "Gegen Masseneinwanderung" angenommen - eine neue Qualität der Fremdenfeindlichkeit
Daniel Mullis - Gestern, am 9. Februar 2014 hat das Schweizer Stimmvolk ein weiteres Mal über eine Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) abgestimmt. Die Initiative mit dem Titel "Gegen Masseneinwanderung" wurde mit 50.3% angenommen, wobei wie so oft ein tiefer Stadt-Land-Graben und die Trennung in französischsprachige Schweiz einerseits und andererseits der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz zu erkennen ist ( 1).
Quelle der Bund
Bei der Abstimmung ging es laut Abstimmungsbotschaft des Bundesrates vor allem darum, dass der Staat künftig regulierend in die Zuwanderung in die Schweiz eingreifen soll. Die "Zahl der Aufenthaltsbewilligungen würde für alle Ausländerinnen und Ausländer durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt." Die Initiative zielte damit nicht auf die Asyl- und Einbürgerungspolitik, die in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Abstimmungen und parlamentarischen Verschärfungen war, sondern direkt auf die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Geregelt ist diese in den bilateralen Verträgen, die die Schweiz und die EU nach dem Nein zum EWR-Beitritt im Jahr 1992, der auch innerhalb der Linken umstritten war, zwecks Regelung der Verhältnisse ausgehandelt haben und die Schweiz gerade in wirtschaftlichen Bereichen mit einem EU-Mitgliedstaat nahezu gleichsetzt. Unter diese Verträge fallen das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989, aber insb. die bilateralen Abkommen I von 1999 und II aus dem Jahr 2004. Die Bilateralen I gelten vor allem als Liberalisierungs- und Marktöffnungsabkommen, darin enthalten ist aber auch das Personenfreizügigkeitsabkommen, in den Bilateralen II trat die Schweiz etwa dem Schengenraum bei ( genauere Infos zu den Bilateralen vgl. 2).
Die Annahme der Initiative bedeutet nun, dass die Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz neu verhandelt werden müsste. Da diese aber innerhalb der EU als Eckpfeiler der europäischen Integration gilt und die Personenfreizügigkeit eng mit den restlichen bilateralen Verträgen verzahnt ist, dürfte dies schwierig werden. So betonte heute ein hoher EU-Diplomat, wie Der Bund berichtet, dass eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit für die EU ausgeschlossen sei und die EU die Einführung von Quoten nicht akzeptieren werde ( 3). Dazu führt Stephan Israel, Korrespondent von Newsnet in Brüssel aus:
"Der Zeitpunkt für eine flexible Haltung gegenüber der Schweiz [ist innerhalb der EU] nicht günstig. Im Hinblick auf die Europawahlen im nächsten Mai wird die EU der Schweiz keine Konzessionen machen. Dies würden die Europaskeptiker als Bestätigung ihrer Position auslegen, und dies könnte den Rechtspopulisten wie Geert Wilders oder Marine Le Pen Auftrieb geben. Die EU hat wegen der Euroskeptiker keinen Spielraum gegenüber der Schweiz." ( 4)
Eine Neuverhandlung und das Riskieren der bilateralen Verträge ist letztlich aber auch nicht im Interesse der Schweizer Wirtschaft, zumal die wesentlich vom darüber vereinfachten Exportgeschäft und dem Zugang zu günstigen Arbeitskräften profitiert. Darüber hinaus veröffentlichte die Credit Suisse bereits heute Zahlen, die belegen sollen, dass als Folge der Abstimmung in der Schweiz 80.000 weniger Arbeitsplätze geschaffen würden, als die Prognose dies ohne die Annahme der Initiative hätte erwarten lassen ( 5). Das letzte Wort darüber, wie es nun weiter geht, ist also noch nicht gesprochen, zumal die Initiative nun auch erst mal von Parlament und Regierung umgesetzt werden bzw. eine konkrete Lösung dafür vorgeschlagen werden muss (6).
Weit erstaunlicher – wohl besser erschreckender – als die Reaktion der EU auf den jüngsten Abstimmungsausgang in der Schweiz ist aber die Tatsache, dass die bisherige breite Koalition aus Bundesrat, dem Gros der Parteien, den Wirtschaftsverbänden und der Gewerkschaften eine Abstimmung über die Personenfreizügigkeit verloren hat. Dies ist ein Novum! Das wirklich Neue daran ist aber, dass eine fremdenfeindliche Initiative trotz erheblicher Bedenken der Wirtschaftsverbände von rechts-außen gewonnen wird. Und dies obwohl "kein anderes Thema [..] die Schweizer Politik und Öffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg so bewegt [hat] wie die 'Überfremdung'." ( 7). Sämtliche Abstimmungen die seit den 1960er von rechts-außen lanciert wurden, darunter die
Anders verhält es sich bei den Abstimmungen, die eine konsequenterer Asylpolitik oder einen härteren Umgang mit Minderheiten forderten. So wurden in den letzten Jahren die Initiative "Gegen den Bau von Minaretten", im November 2009 vom Schweizer Stimmvolk mit 57,5% angenommen und auch die Initiative "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" wurde 2010 mit 53% angenommen, um nur zwei zu nennen. Daneben hat sich in der Schweiz aber eine immer ausländer- und fremdenfeindlichere Politik durchgesetzt, wobei heute ein breiter fremdenfeindlicher Konsens zu konstatieren ist, der nicht zuletzt auch von dem Gros der Medien und beinahe allen Parteien mitgetragen wird ( 8).
Nur so lässt sich auch erklären, dass die aktuelle Initiative als Lösung für die zunehmende Zersiedelung der Schweiz sowie als Maßnahme gegen steigende Mieten und Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt angepriesen werden konnte, was wesentlich zu ihrer Popularität beigetragen hat und darüber letztlich auch zur Annahme führte. Weder die offensichtlich fremdenfeindliche Verknüpfung von Themen, die wenn überhaupt nur am Rande etwas mit Einwanderung zu tun haben, wurde erkannt, noch hat das sonst beliebte – aber keineswegs progressive – Argument, der Gefahr der Verminderung von Wohlstand gezogen. Und so dürfen wir heute, am Tag danach, feststellen: das Schweizer Stimmvolk hat sich in Sachen Fremdenfeindlichkeit mal wieder selbst rechts überholt.
In Bern demonstrieren 800 Menschen gegen die Annahme der Initiative [Bild der Bund]
Quellen
1 - Der Bund, 9.2.2014, Volk nimmt SVP-Einwanderungsinitiative knapp an
2 - Bilaterale Abkommen Schweiz-EU
3 - Der Bund, 10.2.2014, EU: "Neuverhandlungen ausgeschlossen"
4 - Der Bund, 10.2.2014, "Die EU hat keinen Spielraum"
5 - Der Bund, 10.2.2014, 80'000 gefährdete Stellen
6 - Initiativen können in der Schweiz nur die Verfassung verändern, die rechtliche Implementierung und Umsetzung obliegt dann dem Parlament.
7 - Sommer 2010, Rechtspopulismus in der Schweiz, eine Rückschau
8 - Mullis, Sommer 2010, Migrationspolitischer Diskurs und Rechtspopulismus heute
weitere Stimmen zur Abstimmung
Echo der Zeit, SRF 1 vom 9.2.2014
Echo der Zeit, SRF 1 vom 10.2.2014
Quelle der Bund
Bei der Abstimmung ging es laut Abstimmungsbotschaft des Bundesrates vor allem darum, dass der Staat künftig regulierend in die Zuwanderung in die Schweiz eingreifen soll. Die "Zahl der Aufenthaltsbewilligungen würde für alle Ausländerinnen und Ausländer durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt." Die Initiative zielte damit nicht auf die Asyl- und Einbürgerungspolitik, die in den letzten Jahren immer wieder Gegenstand von Abstimmungen und parlamentarischen Verschärfungen war, sondern direkt auf die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Geregelt ist diese in den bilateralen Verträgen, die die Schweiz und die EU nach dem Nein zum EWR-Beitritt im Jahr 1992, der auch innerhalb der Linken umstritten war, zwecks Regelung der Verhältnisse ausgehandelt haben und die Schweiz gerade in wirtschaftlichen Bereichen mit einem EU-Mitgliedstaat nahezu gleichsetzt. Unter diese Verträge fallen das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989, aber insb. die bilateralen Abkommen I von 1999 und II aus dem Jahr 2004. Die Bilateralen I gelten vor allem als Liberalisierungs- und Marktöffnungsabkommen, darin enthalten ist aber auch das Personenfreizügigkeitsabkommen, in den Bilateralen II trat die Schweiz etwa dem Schengenraum bei ( genauere Infos zu den Bilateralen vgl. 2).
Die Annahme der Initiative bedeutet nun, dass die Personenfreizügigkeit zwischen der EU und der Schweiz neu verhandelt werden müsste. Da diese aber innerhalb der EU als Eckpfeiler der europäischen Integration gilt und die Personenfreizügigkeit eng mit den restlichen bilateralen Verträgen verzahnt ist, dürfte dies schwierig werden. So betonte heute ein hoher EU-Diplomat, wie Der Bund berichtet, dass eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit für die EU ausgeschlossen sei und die EU die Einführung von Quoten nicht akzeptieren werde ( 3). Dazu führt Stephan Israel, Korrespondent von Newsnet in Brüssel aus:
"Der Zeitpunkt für eine flexible Haltung gegenüber der Schweiz [ist innerhalb der EU] nicht günstig. Im Hinblick auf die Europawahlen im nächsten Mai wird die EU der Schweiz keine Konzessionen machen. Dies würden die Europaskeptiker als Bestätigung ihrer Position auslegen, und dies könnte den Rechtspopulisten wie Geert Wilders oder Marine Le Pen Auftrieb geben. Die EU hat wegen der Euroskeptiker keinen Spielraum gegenüber der Schweiz." ( 4)
Eine Neuverhandlung und das Riskieren der bilateralen Verträge ist letztlich aber auch nicht im Interesse der Schweizer Wirtschaft, zumal die wesentlich vom darüber vereinfachten Exportgeschäft und dem Zugang zu günstigen Arbeitskräften profitiert. Darüber hinaus veröffentlichte die Credit Suisse bereits heute Zahlen, die belegen sollen, dass als Folge der Abstimmung in der Schweiz 80.000 weniger Arbeitsplätze geschaffen würden, als die Prognose dies ohne die Annahme der Initiative hätte erwarten lassen ( 5). Das letzte Wort darüber, wie es nun weiter geht, ist also noch nicht gesprochen, zumal die Initiative nun auch erst mal von Parlament und Regierung umgesetzt werden bzw. eine konkrete Lösung dafür vorgeschlagen werden muss (6).
Weit erstaunlicher – wohl besser erschreckender – als die Reaktion der EU auf den jüngsten Abstimmungsausgang in der Schweiz ist aber die Tatsache, dass die bisherige breite Koalition aus Bundesrat, dem Gros der Parteien, den Wirtschaftsverbänden und der Gewerkschaften eine Abstimmung über die Personenfreizügigkeit verloren hat. Dies ist ein Novum! Das wirklich Neue daran ist aber, dass eine fremdenfeindliche Initiative trotz erheblicher Bedenken der Wirtschaftsverbände von rechts-außen gewonnen wird. Und dies obwohl "kein anderes Thema [..] die Schweizer Politik und Öffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg so bewegt [hat] wie die 'Überfremdung'." ( 7). Sämtliche Abstimmungen die seit den 1960er von rechts-außen lanciert wurden, darunter die
- Initiative gegen "Überfremdung" aus dem Jahr 1965, welche unter anderem eine Beschränkung der Ausländer_innenanteils an der Bevölkerung auf 10% forderte;
- die Schwarzenbachinitiative aus dem Jahr 1970, die forderte, dass kein Kanton (mit Ausnahme von Genf) künftig einen höheren Ausländer_innenanteil als 10% aufweisen dürfe und keine Schweizer Arbeitskraft entlassen werden dürfe, solange es ausländische Arbeiter_innen zu entlassen gebe;
- (bis 1977 folgten drei weitere „Überfremdungsinitiativen“);
- und die 18% Initiative aus dem Jahr 2000, welche eine Deckelung des Ausländer_innenanteils in der Bevölkerung bei 18% forderte,
Anders verhält es sich bei den Abstimmungen, die eine konsequenterer Asylpolitik oder einen härteren Umgang mit Minderheiten forderten. So wurden in den letzten Jahren die Initiative "Gegen den Bau von Minaretten", im November 2009 vom Schweizer Stimmvolk mit 57,5% angenommen und auch die Initiative "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" wurde 2010 mit 53% angenommen, um nur zwei zu nennen. Daneben hat sich in der Schweiz aber eine immer ausländer- und fremdenfeindlichere Politik durchgesetzt, wobei heute ein breiter fremdenfeindlicher Konsens zu konstatieren ist, der nicht zuletzt auch von dem Gros der Medien und beinahe allen Parteien mitgetragen wird ( 8).
Nur so lässt sich auch erklären, dass die aktuelle Initiative als Lösung für die zunehmende Zersiedelung der Schweiz sowie als Maßnahme gegen steigende Mieten und Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt angepriesen werden konnte, was wesentlich zu ihrer Popularität beigetragen hat und darüber letztlich auch zur Annahme führte. Weder die offensichtlich fremdenfeindliche Verknüpfung von Themen, die wenn überhaupt nur am Rande etwas mit Einwanderung zu tun haben, wurde erkannt, noch hat das sonst beliebte – aber keineswegs progressive – Argument, der Gefahr der Verminderung von Wohlstand gezogen. Und so dürfen wir heute, am Tag danach, feststellen: das Schweizer Stimmvolk hat sich in Sachen Fremdenfeindlichkeit mal wieder selbst rechts überholt.
In Bern demonstrieren 800 Menschen gegen die Annahme der Initiative [Bild der Bund]
Quellen
1 - Der Bund, 9.2.2014, Volk nimmt SVP-Einwanderungsinitiative knapp an
2 - Bilaterale Abkommen Schweiz-EU
3 - Der Bund, 10.2.2014, EU: "Neuverhandlungen ausgeschlossen"
4 - Der Bund, 10.2.2014, "Die EU hat keinen Spielraum"
5 - Der Bund, 10.2.2014, 80'000 gefährdete Stellen
6 - Initiativen können in der Schweiz nur die Verfassung verändern, die rechtliche Implementierung und Umsetzung obliegt dann dem Parlament.
7 - Sommer 2010, Rechtspopulismus in der Schweiz, eine Rückschau
8 - Mullis, Sommer 2010, Migrationspolitischer Diskurs und Rechtspopulismus heute
weitere Stimmen zur Abstimmung
Echo der Zeit, SRF 1 vom 9.2.2014
Echo der Zeit, SRF 1 vom 10.2.2014
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rageo - 10. Feb, 20:09 Article 3679x read
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