Die Herrschaft des armen Verwandten

Benedikt Loderer, Tages-Anzeiger online, 01.06.2010

Nirgendwo wird so viel Geld vom Zentrum zum Rand umverteilt wie in der reichen Schweiz. Wollen wir jedoch reich bleiben, müssen wir nicht die Verteil-Schweiz, sondern die Zentral-Schweiz fördern.

Es gibt zwei Schweizen: die regionale, einsprachige Innenschweiz und die internationale, mehrsprachige Weltschweiz – auf den Punkt gebracht: die Verteil-Schweiz und die Zentral-Schweiz. Ein Land mit zwei Geschwindigkeiten, vor allem in den Köpfen. Die Karten am Montag nach den Volksabstimmungen zeigen ihre Hoheitsgebiete. Beide Schweizen aber haben dasselbe, nie ausgesprochene stillschweigend vereinbarte Staatsziel: Wie sind reich, wollen reich bleiben und noch reicher werden. Alle. Das ist das heimliche Fundament unserer Demokratie.

«Wir auch!»
Allerdings wird der Zuwachs an Reichtum in der Zentral-Schweiz verdient. Das grämt die Verteil-Schweiz, und sie hat ein klares Ziel: «Wir auch!». Der Futterneid ist der Kern des Föderalismus. Bund, Kantone und Gemeinden, so steht es im Raumplanungsgesetz, unterstützen raumplanerische Massnahmen, die «das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben in den einzelnen Landesteilen fördern und auf eine angemessene Dezentralisation der Besiedlung und Wirtschaft hinwirken» (§1.c). Im Klartext: Jeder Quadratmeter Schweizeroberfläche ist vor der Wirtschaft gleich. Wo das nicht der Fall ist, müssen Bund, Kantone und Gemeinden für Ausgleich sorgen. So weit das offizielle föderalistische Programm. Doch seine zentralistische Anwendung widerspricht diesem diametral. Denn wir sind föderalistische Zentrierer. Eine Seelenspaltung? Keineswegs, nur Tatsache.

Es war einmal eine Schweiz, die war so föderalistisch, dass sie erstarrte und mithilfe einer französischen Besetzung und eines Bürgerkriegs wieder zur Beweglichkeit geprügelt werden musste. 1848 wars so weit. Damals waren Genf und Basel die grösseren Städte als Zürich, Bern wenig kleiner und alle zusammen ähnlich gross. Im Kanton Bern wohnten um 1850 ein Fünftel aller Schweizer. Doch nahm anschliessend Zürichs Karriere die Eisenbahn, und die Stadt wurde in einem halben Jahrhundert zur wichtigsten Handels- und Industriestadt, zum Wirtschafts- und Verkehrszentrum des Landes. Später kamen auch die Banken, der Flughafen, die Medien nach Zürich. Man kann heute mit der Glattalbahn das Ergebnis besichtigen. Das Autobahnnetz, das grösste und teuerste Bauwerk, das wir je gebaut haben, hat nicht bloss die Zersiedlung ermöglicht, sondern vor allem Zürich gefördert. Verlängert man die Autobahn bis nach Pruntrut, so schafft man keine neuen Arbeitsplätze im Kanton Jura, aber endlich kann man in Pruntrut wohnen und in der Zentral-Schweiz arbeiten.

Zürich grösser und die anderen kleiner gemacht
Der Taktfahrplan tickt nach der Zürcher Zeit. Die Bahn 2000, die als Instrument des Ausgleichs, als Lebensader des schweizerischen Städtenetzes angepriesen wurde, hat vor allem Zürich grösser und die anderen kleiner gemacht. Zusammenfassend: 150 Jahre gepredigter Föderalismus führten zur Zentral-Schweiz. Auch die Agglomeration Basel und der Arc Lémanique gehören zur Zentral-Schweiz. Dass das eigenständige Metropolitanräume sind, scheint von innen gesehen eindeutig, von Brüssel oder Shanghai aus betrachtet, ist die Zentral-Schweiz allerdings ein Ding. Darum lassen wir die freundeidgenössischen Hahnenkämpfe diesmal weg. Es genügt festzustellen: «Die angemessene Dezentralisation der Besiedlung und Wirtschaft» ist eine der schweizerischen Lebenslügen. Vermutlich hat jedes Land die Lebenslügen, die es verdient.

Doch die Wirklichkeit gibt es. Ein unverstellter Blick auf die heutige Schweiz ist unterdessen nötig. Die Planer haben zögernd damit begonnen und einen neuen Begriff formuliert, um die Wirklichkeit einzufangen, den funktionalen Raum. Was zusammenwirkt, soll auch zusammengehören. Die Übersetzung in Beispielfragen: Wo beginnen die Kantone Aargau und Thurgau, anders herum: Wo hört Zürich auf? Wie viel vom Elsass und von Südbaden gehört zur Agglomeration Basel? Ist Annemasse ein Genfer Quartier? Wovon ist Bern die Hauptstadt? Solche Fragen sind uneidgenössisch, weil sie die Kantons- ja Landesgrenzen verletzen, sie überschreiten den historischen Anstand.

Nimmt man sie aber ernst, so öffnen sie Herz und Verstand. Man erkennt nämlich, wie die Zentral- und die Verteil-Schweiz zusammenhängen. Sie funktionieren wie kommunizierende Röhren. Die Verteil-Schweiz ist der Freizeitpark der Zentral-Schweiz; Graubünden zum Beispiel ist zwar ein eigenständiger Kanton, aber funktional ist es der Stadtpark der Agglomeration Zürich. Beide brauchen beide, sie leben voneinander.

Das Gift der Anpassung
Es geht um den Wirklichkeitssinn, nicht um Kantonsfusionen. Die sind die Sandkastenspiele der Sonntagsblätter. Anders herum: endlich die Schweiz so sehen, wie sie wirklich ist, und dabei feststellen, dass sich die Realität um die politischen Grenzen wenig kümmert. Sie baut weiter an den funktionalen Räumen, und diese werden von der Zentral-Schweiz beherrscht. Jeder weitere Ausbau der Infrastrukturen ist ein Beitrag zu den funktionalen Räumen und stärkt die Zentral-Schweiz. Die Verteil-Schweiz will ihren Anteil am Ausbau und ist überzeugt, damit ihr Reichwerden zu fördern. In Wirklichkeit leistet sie damit einen weiteren Beitrag zum Ausbau der Zentral-Schweiz. Es ist paradox. Die Föderalisten sind stolz auf ihre Eigenart und wollen sie bewahren, doch ist in ihrem Kampfruf «Wir auch!» das Gift der Anpassung schon enthalten. Je mehr sie bekommen, desto deutlicher werden sie von der Zentral-Schweiz beeinflusst und verändert. Sie werden ihr immer ähnlicher. Wirklich grundfeste Föderalisten müssten das Geld aus der Zentral-Schweiz mit Verachtung ablehnen. Zur Erinnerung: Der ökonomische Naturzustand der Alpen ist die Armut. Das war bis um 1950 selbstverständlich und naturgegeben. Dann setzte sich der Gedanke des regionalen Paritätslohns durch. Überall in der Schweiz sollte der Wohlstand herrschen. Der Preis dafür ist der Verlust an Eigen-Sinn. Das Anderssein ist unterdessen reine Folklore. Doch der Alltag ist der der Zentral-Schweiz. Alle Abende stieren alle in dieselbe Röhre. Es gilt der starke Satz: Die Schweiz minus die Alpen gleich die Wirklichkeit.

Da wir reich bleiben und noch reicher werden wollen, müssen wir in der Europaliga, ja Weltliga mitspielen können. Doch, behaupten die Ökonomen, dafür müsse eine Bevölkerung von mindestens einer Million Menschen zusammen wirken. Nur so erreiche man die kritische Masse, finde jene Zusammenrottung der Fähigsten statt, die Voraussetzungen zur Clusterbildung sei, selbstverständlich Spitzenuniversitäten, Spitzenspitäler, Spitzenkultur und Spitzensport. Das ist die Praxis des theoretisch behaupteten funktionalen Raums.

Ziel: in der Weltliga mitspielen
Wenn das wahr ist und wenn die Schweiz in der Weltliga mitspielen will, dann müssen wir die Zentral-Schweiz wollen und fördern. Denn je grösser Zürich im Inland wird, desto konkurrenzfähiger ist die Schweiz im Ausland. Wir verdienen das Geld, das uns von Behäbigen zu Reichen macht, im und mit dem Ausland. Die Schweiz kann von der Schweiz nicht leben. Die Zentral-Schweiz ist ein Teil der Globalisierung. Es liegt nicht in unserer Macht, das zu ändern. Darum muss, wer reich bleiben will, für die Zentral-Schweiz sein. Ohne sie gibt es nichts zu verteilen.

Auch die Verteil-Schweiz will reicher werden. Sie sieht allerdings mit Futterneid, dass die Zentral-Schweiz schneller reicher wird als sie. Das widerspricht dem Staatsgrundsatz «Wir auch!». In keinem anderen Land Europas wird so viel umverteilt wie in der Schweiz. Hier ist eidgenössischer Klassenkampf am Werk. Er verteilt nicht von oben nach unten, sondern vom Zentrum zum Rand. Die wenigen Reichen, genauer die Zentral-Schweiz, zahlen für die vielen Armen, die Verteil-Schweiz. Föderalismus ist die Herrschaft der armen Verwandten. Das ist historisch erklärbar und innenpolitisch klug, ob es dem Staatsziel Reicherwerden dient, ist weniger sicher. Wie lange können, wie lange wollen und wie lange müssen wir uns die föderalistischen Lösegeldzahlungen noch leisten?

Was, wenn wir ärmer würden?
Denn die Umverteilung funktioniert nur so lange, wie es genug zu verteilen gibt. Was geschieht aber, wenn das Geld knapp wird? Da geschieht etwas Furchtbares, etwas radikal Unschweizerisches. Wir müssen Prioritäten setzen. Man muss die Frage beantworten: Wo ist das Geld am wirkungsvollsten eingesetzt? In weiteren Greina- oder Furkatunneln, im Lötschberg, den man eigentlich nicht braucht, in einer Autobahn über Trogen nach Appenzell oder vielleicht doch in der Zentral-Schweiz? Gilt «Wir auch!» oder gilt «Wo nützts?». Die armen Verwandten werden die Verteilung durchsetzen und damit den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Die Geschwindigkeit der Zentralschweiz nimmt ab, was die Verteil-Schweiz noch langsamer macht. Man kann es auch anders ausdrücken: Wir verfehlen das Staatsziel. Wir werden ärmer. Wir sollten uns einmal darüber unterhalten, wie schlimm das wäre.


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