Wie die Stadt Bern für Ruhe sorgt - Eine kleine Geschichte aus der Lorraine

Silvia Süess, WoZ, 1.4.10

Stadtkultur - Lieber ein toter Fleck als ein lebendiger Quartiertreffpunkt. Oder: Wie die Stadt Bern für Ruhe sorgt. Eine kleine Geschichte aus der Lorraine.

Frühling ohne Stadttauben
Der Gast hat schlechte Laune. Beim Frühstück beschwert er sich, er sei um sieben Uhr vom Lärm der Bagger geweckt worden. Ein Blick aus dem Küchenfenster klärt die Situation: Auf der anderen Strassenseite hat jemand hart gearbeitet. Entlang dem Grundstück gegenüber wurde ein Graben ausgegraben, etwa einen halben Meter tief und einen Meter breit. Die ausgegrabene Erde liegt aufgeschüttet daneben.

Ein seltsamer Anblick: Fast sieht es aus wie ein Massengrab, bereit, um Leichen hineinzuwerfen und wieder mit Erde zu überdecken. Oder wie ein Schlossgraben, der das hübsche Schlossfräulein vor unerwünschtem Besuch schützen soll. Mit dem kleinen Unterschied, dass in der Mitte des Grundstücks kein Schloss und keine Burg steht und auch kein schönes Fräulein zu Hause ist. Denn da liegt nichts als Erde. Die aber scheint so wertvoll zu sein, dass sie mit einem Graben geschützt werden muss. Das zumindest meint die Stadt Bern, der das leere Grundstück inmitten des Wohnquartiers Lorraine gehört.

Effizient und kostengünstig
Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können und nicht mit einem so hässlichen Graben enden müssen. Alles begann damit, dass die Stadt sich entschloss, auf dem Grundstück schicke Wohnungen zu bauen. Dazu musste die Garage Alcadis, die hier stand, abgerissen werden. Das war im letzten Oktober. Dann passierte lange nichts mehr. Das Land lag verlassen, der Winter kam und überdeckte die Brache mit Schnee.

Bis eines kalten Morgens im März plötzlich Wohnwagen auf dem abgesperrten Grundstück standen. Die Stadttauben, eine Gruppe junger Menschen, die in Wohnwagen leben, liessen sich auf dem Grundstück nieder. Innert weniger Stunden hatten sie sich eingerichtet, das Klohäuschen aufgebaut, eine Küchennische installiert ... Es war schön, dass auf der toten Parzelle wieder Leben war.

Doch es gab Leute in der Stadt, die sich daran störten - vor allem solche, die weit weg von der Lorraine leben: Die Stadttauben könnten ja Lärm machen, die NachbarInnen mit ihrem Verhalten stören oder gar Unrat hinterlassen ...

Wer in einem Wohnwagen statt in einer Wohnung lebt, macht sich allein damit schon verdächtig. Normen und Konventionen sind eng heutzutage, weicht man nur ein klein wenig davon ab, gilt man als Freak oder randständig. Zumindest in Bern. Nach nur einer Woche - in der weder Lärm zu hören war noch Unrat auf der Strasse herumlag - verliessen die Stadttauben das Gelände wieder. Die Stadt hatte mit einer Räumung gedroht.

Und dann hatte jemand von der städtischen Liegenschaftsverwaltung diese geniale Idee: der Graben! Einmal kurz baggern - und schon werden unerwünschte Personen vom Grundstück ferngehalten. Einfach, effizient und kos tengünstig. Eigentlich ist die Parzelle ja Wohnzone, und in ein paar Jahren sollten tatsächlich auch Menschen hier wohnen. Aber dann in schicken Wohnungen bitte und nicht in selbst umgebauten Wohnwagen. Bis dahin soll niemand die Parzelle nutzen können.

Graben als Schwimmbad
Ja, die Geschichte hätte auch anders verlaufen können. Der Verein Läbigi Lorraine wehrte sich nämlich gegen den Abbruch der Garage und schlug eine Zwischennutzung der Räumlichkeiten als Quartiertreff vor. Die Stadt aber lehnte ab und liess abreissen. Wann mit dem Bau der Wohnungen begonnen werden soll, ist unklar. Sicher nicht vor 2011, vielleicht erst 2012. Eine Zwischennutzung hätte sich längst gelohnt. Aber statt eines lebendigen Quartiertreffpunkts bevorzugt die Stadt Bern eine tote Parzelle. Und wir LorrainelerInnen müssen weiterhin in diesen Graben starren, der sich langsam mit Müll füllt.

"Wir könnten den Graben mit Wasser füllen, damit unsere Kinder im Sommer darin baden können", schlägt eine Nachbarin vor. "Wir stellen in der Mitte der Parzelle ein paar Sonnenschirme, Liegestühle und Bänke auf. Das wird richtig gemütlich." An Ideen fehlt es nicht im Quartier. Und wenn die Stadt nichts unternimmt, werden die AnwohnerInnen das Gelände wohl diesen Sommer für sich nutzen.

Die Stadttauben sind übrigens nach Bümpliz weitergeflogen, wo sie sich wieder auf einer städtischen Parzelle niedergelassen haben. Hier sollen sie bis Ende Mai geduldet werden. Vielleicht werden nachher auch dort Gräben ausgehoben.


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