SVP-Anzeige über den «deutschen Filz» an CH-Hochschulen

Folgt auf die Arisierung die Helvetisierung?

Michael Hampe, Tages-Anzeiger, 31.12.2009

Die SVP poltert gegen den «deutschen Filz» – dabei profitieren die hiesigen Hochschulen von der Internationalität. Dies sagt ein Fachmann, der ETH-Professor Michael Hampe.

Am 20. Dezember zählte ich nach: Wie viele meiner Mitarbeiter sind aus der Schweiz und wie viele deutsch? Acht Schweizerinnen, drei aus Deutschland war das Ergebnis. Ein Kanadier und ein Japaner, die früher als Gastwissenschaftler dabei waren, sind in ihre Heimatländer zurückgegangen. Als ich dies einem Kollegen, wie ich ein deutscher Professor an der ETH, erzählte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen: «So, jetzt beginnst du also zu zählen, ob deine Professur auch helvetisch genug ist! Weisst du, was du da machst? Erst die Arisierung der Wissenschaft, jetzt die Helvetisierung. Was hat Wissenschaft eigentlich mit Abstammung zu tun?» Er hatte Recht. Die SVP-Anzeige über den «deutschen Filz», wonach Deutsche eben Deutsche einstellen, die dann arrogant die Schweizer verdrängen, hatte mich als Deutschen beschäftigt und offenbar geistig verwirrt.

Verwirrt: Die SVP-Anzeige über den «deutschen Filz».
kritisierte SVP-Anzeige

SVP arbeitet an Dekultivierung
1933 hatte der englische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead gemeint, dass Verachtung und öffentliches Herziehen über Lehrer und Gelehrte in jeder Zivilisation ein Leitsymptom von sich beschleunigenden Dekultivierungsprozessen seien. Die SVP hat sich diese Gruppe natürlich nicht speziell vorgenommen. Sie ist lediglich jetzt bei den Deutschen, die am Zürcher Uni-Spital und an den Hochschulen arbeiten, angekommen als denen, die man mal abfrühstücken kann, um damit bei den Wählern Stimmung zu machen. An der Dekultivierung der Schweiz arbeitet diese Partei ja viel breiter, nicht lediglich auf den Bildungssektor zielend.

Oft kommen deutsche Wissenschaftler und Gelehrte in die Schweiz, weil sie von ihren Besuchen her den Eindruck haben, dass die von Whitehead gemeinte Dekultivierung, die er am Anfang des 20. Jahrhunderts wahrzunehmen glaubte und die man auch heute überall in Europa wieder beobachten kann, hier noch nicht so weit fortgeschritten sei. Doch dann erfährt man, dass man als Hochschullehrer offenbar auch in Helvetia von einigen zu den naiven Besserwissern gezählt wird, die ausserdem, wie das meiste unangenehme Personal, auch noch aus dem Ausland, «in Zürich vor allem aus Deutschland kommt», heisst es wohl bei der SVP. Dass sie in der Brutalisierung und Dekultivierung der Schweizer auf einen deutschen Plakatdesigner wie Alexander Segert zurückgreifen muss, ist allerdings gerade bei einem Plakat gegen die arroganten Deutschen komisch. Selbst bei der Organisation von sich gegen Deutsche richtender Fremdenfeindlichkeit scheint die SVP im Rhetorischen und Piktoralen auf teutonische Brachialgewalt angewiesen zu sein. Ist in ihr doch noch ein Körnchen Schweizer Kultur verborgen?

Wenn man seine Kinder auf die Schule und die Universität schickt, hofft man, dass sie - anders als die SVP - viel zu unterscheiden lernen, am besten auf internationalem Niveau in vielen Sprachen. Deshalb wird Internationalität vor allem an Hochschulen bei Lehrern und Studierenden angestrebt. Ich selbst hatte das Privileg, den Schweizer Peter Bieri zu Beginn meines Philosophiestudiums in Heidelberg hören zu können. Und die Philosophiestudenten an der Humboldt-Universität in Berlin kommen heute in den Genuss, bei einem der besten Philosophiehistoriker für das Mittelalter und die frühe Neuzeit, dem Schweizer Preisträger des deutschen Leibniz-Preises, bei Dominik Perler studieren zu können. Leider lehren viel zu wenig Ausländer an deutschen Hochschulen. Denn ein internationales Gemisch aus Lehrenden und Lernenden schützt gegen vor allem in der Wissenschaft gefährliche Vorurteile. Trotzdem scheint zumindest der SVP wählende Teil des Schweizer Volkes nicht mehr stolz auf seine internationale Lernkultur und Wissenschaft in Zürich sein zu können, obwohl eine nationale ja gar nicht möglich wäre. Liegt das an der durch diese Partei bereits erreichten Dekultivierung von Teilen der Schweiz?

Wissen ist nicht national
Sollten Maschinenbau und Elektrotechnik, Mathematik und Philosophie, Biologie und Geschichte einmal helvetisch werden können? Und wie hätte man sich das vorzustellen? Etwa so wie die deutsche Physik von Philipp Lenard, die 1936 als ein vierbändiges Lehrbuch erschien, in dem die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik als jüdische Wissenschaft abgelehnt wurden? Deutsche oder wie es hiess «arische» Physiker glaubten weiterhin reichlich zurückgeblieben an den Äther und die klassische Mechanik. Der Sowjetagronom Lyssenko lehnte in den 30er-Jahren, also lange nach Darwin und Mendel, die Erblichkeit von physischen Merkmalen als bürgerliche Wissenschaft ab. Denn genetische Determinierung passte nicht zum freien Sowjetmenschen. Zwischen 1934 und 1940 selektierte dieser Vertreter einer Sowjetbiologie für Stalin Genetiker, die ermordet oder in Gulags geschickt wurden. Lange geht das freilich nicht, ein solches Scheinwissen bei der arischen Rasse oder in der Sowjetideologie einzusperren, selbst bei Gewaltanwendung nicht. 1945 war der Spuk vorbei. Denn eine Nationalisierung von Wissenschaft kann nicht funktionieren, weil Wissen nach Allgemeingültigkeit strebt, nicht national oder ethnisch ist. Ein paar Jahre mag man zwar auf diese Weise verrücktspielen und sich vor der geistigen Öffentlichkeit lächerlich machen. Doch letztlich ist das nicht durchzuhalten. Aber darum geht es natürlich der SVP bei den Deutschen an Zürcher Spitälern und Hochschulen gar nicht. Bis zu den Inhalten von Disziplinen bringt es ihr deutscher Plakatkünstler nicht. Ich weiss gar nicht, wie ich auf Lenard und Lyssenko kommen konnte.

Wenn Wissen notwendigerweise international ist, weil es allgemeingültig sein muss, dann stossen in der Gemeinschaft der Wissenden auch immer wieder unterschiedliche Mentalitäten aufeinander: verschiedene Gewohnheiten zu sprechen, zu schreiben, zu debattieren und vorzutragen. Das führt auch zu Verstimmungen. Ein Kollege berichtete von Vorbereitungen eines internationalen Kongresses über Hirnforschung und Religion in Zürich. Mit den Worten: «Was aber ist das Argument, und wie ist es empirisch untermauert?», soll ihn der US-Amerikaner immer und immer wieder unterbrochen haben. Hart und arrogant sei ihm das vorgekommen, als wolle der gar nicht erst zuhören. «Und genauso nehmen die Schweizer die Deutschen wahr», sagte er dann, «die Amerikaner setzen die Deutschen unter Druck und die Deutschen die Schweizer.» Eine mentalitätsbedingte Hackordnung, scheint es.

Würde eine deutsche Partei schreiben: «Die arroganten amerikanischen Wissenschaftler stellen nur Amerikaner ein?», wenn die Amerikaner so gerne in Deutschland arbeiten wollen würden wie die Deutschen in der Schweiz (was sie nicht wollen)? Kann schon sein. Irgendwem sind Mentalitäten und Karrieremuster für eine öffentliche Hetze gegen die jeweils anderen immer mehr wert als die Produktion von allgemeinen Wahrheiten, denen sich alle Menschen anschliessen können und für die solche Differenzen irrelevant sind. Man kann, vor allem wenn man zu diesen jeweils anderen gehört, nur hoffen, dass die Hetzer nicht die Mehrheit werden. Denn dann wirds brenzlig. Dark Times.


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