Tscharnergut - Im Bienenstock lebt es sich behaglich

Hanna Jordi, Der Bund, 24.11.09

Drei Berner Studierende haben im Tscharnergut untersucht, wie über das Quartier gesprochen wird. Das Resultat: Die Bewohner sind sich der schönen Seiten ihres «Tscharnis» bewusst.

Sie können es nicht mehr hören: Die Bewohner von Grosswohnsiedlungen wie Wittigkofen, Gäbelbach oder dem Tscharnergut teilen sich ein Schicksal. Kommen Aussenstehende auf ihre Quartiere zu sprechen, fallen schnell Begriffe wie «Getto», «Betonwüste» oder, etwas weniger harsch, «Bienenstock». Entsprechend trocken kommentierte die Präsidentin des Vereins Quartierzentrum Tscharnergut die Reihe klischeehafter Begriffe, als der «Bund» Anfang Jahr über das 50-Jahre-Jubiläum des Tscharnerguts berichtete: Solche Einschätzungen kämen oft von Leuten, die das «Tscharni» nur vom Hörensagen kennen würden, sagte Marianne Mendez. Sie sollte recht behalten.

Eine Studie dreier Germanistikstudenten und einer Assistentin der Universität Bern bestätigt nun, dass zutrifft, was man im Quartierzentrum intuitiv schon wusste. Dass von innen her betrachtet alles ein wenig anders aussieht. Und zwar sehr viel rosiger. Um zu untersuchen, wie mit der Sprache des Alltags der Raum einer Grosswohnsiedlung beschrieben wird, befragten sie Bewohner des Tscharnerguts sowie Aussenstehende zum vermeintlichen «Getto». Letzte Woche präsentierten sie ihre Ergebnisse an einem Vortrag über «Forschungsperspektiven der Diskursanalyse urbaner Räume» an der Uni Bern.

Das «Manhattan von Bern»
100 Menschen – 54 Anwohner und 46 Auswärtige – stellten sich im Dienste der Wissenschaft den Fragen von Anna Osterhus, Fermin Suter, Maria Hofmann und Giuseppe Pietrantuono. Postiert hatten sie sich vor dem Einkaufszentrum im Quartierhof. Am auskunftsfreudigsten zeigten sich die Interviewpartner, als sie spontan drei Stichworte zum Tscharnergut nennen sollten: Meist beschrieben sie die Umgebung, nannten Begriffe wie «Hochhaus», «Beton» oder einfach «Quartier». Auch die Infrastruktur und die Bewohner des «Tscharnis» schienen für die Assoziationen massgebend zu sein: «Schule», «Drogerie», «Einkaufszentrum» und «alte Menschen» fiel den Leuten ein. Oder, auf den Ausländeranteil von rund einem Drittel im Quartier Bezug nehmend, «Ausländer» und «multikulti».

Diese Beschreibungen waren alle noch positiv oder zumindest neutral formuliert. Andere Ergebnisse erhielten die Studierenden in Bezug auf das Image des Quartiers: «Was glauben Sie, halten Leute, die nicht im Tscharnergut wohnen, vom Tscharnergut?» Hier machte die Bezeichnung «Getto» über 25 Prozent aller Antworten aus. Daneben fielen Begriffe wie «Slum» oder «Randquartier». Einzelne Befragte schufen gar Bezeichnungen aus dem Stegreif: Hier fielen Aussagen wie «Manhattan von Bern», oder «die Hauptstadt von Albanien». «Bei der Frage nach dem Image des Tscharnerguts fällt auf, dass von 131 Antworten nur 8 das Image als positiv bewerteten. 103 werteten es negativ», so Suter, der im neunten Semester Germanistik studiert. Die gängigen Vorurteile scheinen als sprachlicher Reflex sowohl bei Aussenstehenden als auch bei den Anwohnern vorhanden zu sein. Letztere sind sich der üblichen Vorurteile, die ihrem Quartier entgegengebracht werden, durchaus bewusst. Persönlich können sie sich aber auf positive Erfahrungen berufen, auf solche aus erster Hand.

«Kinderfreundlich und friedlich»
Die Feldstudie belegt nämlich, dass sich die Bewohner des «Tscharnis» wohlfühlen in ihrem Quartier. Als sich die Befragten zu dessen Vorzügen äussern sollten, waren sie des Lobes voll: Man befinde sich nahe am Zentrum Bern, gleichzeitig sei alles, was man brauche, gleich vor Ort. Das Quartier wird als kinder- und seniorenfreundlich beschrieben und es gebe einen guten sozialen Zusammenhalt. Dazu passt, dass 30 Prozent der Befragten angaben, dass die meisten ihrer Bekannten gleich vor Ort lebten. Das Quartier sei gut erschlossen und das Angebot an Freizeitmöglichkeiten werde geschätzt. Wenn die Menschen den Ort beschrieben, benutzten sie dazu Adjektive wie «übersichtlich», «schön», «friedlich» oder «ruhig». Und die «schönen, hellen Wohnungen» seien angenehm «preisgünstig».

Entsprechend war die Frage nach nötigen Veränderungen im Quartier die am schlechtesten beantwortete: Die meisten Befragten wussten darauf nämlich nichts zu entgegnen. Wenn ihnen doch etwas dazu einfiel, so betraf es meist bauliche Massnahmen, etwa die Gebäude farbig zu gestalten oder mehr Grünflächen anzulegen. Einige Antworten betrafen auch die Anwohnerstruktur des Quartiers: Manche wünschten sich mehr Familien und «junge Personen». Vereinzelt nannten die Befragten den Wunsch nach einem besseren Image des Quartiers. Die Studie, die im Rahmen eines Seminars von Sprachwissenschaftler Ingo H. Warnke verfasst wurde, soll dereinst als Basis für weitere Untersuchungen im urbanen Raum dienen. Da sie auf einer kleinen Zahl an Befragten fusst – immerhin leben im «Tscharni» 2320 Menschen –, vermag sie lediglich Tendenzen anzuzeigen. Dennoch dürften sich die klischeegeprüften Anwohner über das Ergebnis freuen. Wenn sie es auch insgeheim schon kannten.

Für Otto Wenger, Koleiter des Quartierzentrums, hält die Studie jedenfalls keine Überraschungen bereit: «Es bestätigt, was wir hier jeden Tag erleben: Die Menschen fühlen sich wohl im ,Tscharni». Weshalb sich die alten Klischees dennoch hartnäckig halten, kann er nur vermuten: «Vielleicht spielt das Aussehen eine Rolle: Wenn man das Quartier von aussen betrachtet, macht es einen geschlossenen Eindruck, man sieht nur eine Mauer aus Beton», sagt er. Habe man aber erst einmal den Innenhof erreicht, wirke das Quartier nicht mehr abweisend, sagt er.

Das einzige Schlagwort, mit dem man den Tscharnergütlern übrigens nicht ungewollt auf die Zehen tritt, ist das des «Bienenstocks»: stellt das Signet des Quartiers doch ein Sechseck, also eine Bienenwabe dar.


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