Bern baut!

Daniel Di Falco, Der Bund, 28.10.2009

Diese Stadt und die zeitgenössische Architektur: zwei Dinge, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Jetzt gibt es einen Architekturführer mit 84 Gegenbeweisen.

«Bern baut», so heisst der Band, der heute erscheint. Das klingt schon fast trotzig: Bern baut wirklich. Oder wie eine Neuigkeit: Bern baut wieder. Ein Ausrufezeichen müsste also einer aus Zürich, um den Bernern zu sagen, dass sich in ihrer Stadt allerhand regt, auch wenn sie selber vielleicht am meisten in die Idee verliebt sind, Bern schlummere in gemütlicher Stagnation vor sich hin. Der Mann heisst Werner Huber, er ist Redaktor bei der Architekturzeitschrift «Hochparterre», er gibt den neuen Architekturführer heraus, und er hat ein «neues Bern» entdeckt.

«Natürlich versteht man unter Bern noch immer die Altstadt», sagt er. Lauben, Sandstein, Aareschlaufe: Von keiner Stadt des Landes mache man sich ein derart klares Bild. Aber schon am Bahnhof könnte man merken, dass es nicht stimmt. Dort steht die «Welle», ein Symbol der «neuen Berner Dynamik». Von Westen laufen die Perrondächer auf den Bahnhof zu und wölben sich energisch auf, bevor sie unter der Schanzenbrücke durchschlüpfen und in die Bahnhofshalle zielen. So beschreibt Huber im Führer den «kräftigen Abschluss», den die neue Passerelle dem Bahnhof beschert hat.

Der Horizont ist weiter geworden
Der neue Bahnhof also. Und der neue Bundesplatz. Und der neue Bärenpark. Und an den Enden der Stadt Westside und das Zentrum Paul Klee, die Bauten von Libeskind und Piano, die schon durch die Prominenz ihrer Erbauer zu Sehenswürdigkeiten geworden sind. Architektur als Marketingmassnahme? «So funktioniert sie heute durchaus», sagt Huber. «Fraglich ist nur, wie lange die Wirkung anhält.» Wichtiger aber: Mit den beiden Bauten sei es fast über Nacht gelungen, Bern von der notorischen Fixierung auf die Altstadt zu lösen. «Sie haben den Horizont der Stadt erweitert.»

Doch das meint Werner Huber nicht mit dem «neuen Bern». Er sieht es dort, wo es den Besuchern der Stadt entgeht, aber auch ihren Bewohnern: im Wohnungsbau. Der habe in den letzten fünfzehn Jahren «markant angezogen», die Dynamik komme von hier, sagt Huber und zählt auf: neue Siedlungen wie Brünnen, Schönberg Ost, Weissenstein/Neumatt auf beiden Seiten der Grenze von Köniz und Bern. Dazu einzelne Neubauten wie jene auf dem Wander-Areal oder am Bornweg beim Burgernziel.

Passt doch alles bestens zum obersten Ziel der Stadtentwicklung: attraktiven Wohnraum zu schaffen, der zusätzliche Einwohner in die Stadt bringt, denn sie hat im Verhältnis zu den vielen Pendlern wenig Steuerzahler und ein Problem mit den Zentrumslasten. Tatsächlich legt Bern, nach vier Jahrzehnten des Schrumpfens, seit der Jahrtausendwende wieder Einwohner zu. Ein Erfolg der Politik? Auch, aber nicht nur, meint Huber und erwähnt die «Renaissance der Stadt», die sich nicht nur in Bern zeigt: Das urbane Leben hat wieder mehr Kredit als auch schon.

Davon sprechen auch die Soziologen. Mancher von ihnen meint gar, dass sich die ökonomische Zukunft der Städte in der Frage entscheidet, wie attraktiv sie für die «Klasse der Kreativen» sind. Auch Huber sieht im kulturellen Angebot einen Grund für den Aufschwung der Urbanität. Neben den Einkaufsmöglichkeiten. Und neben der chronisch gewordenen Verstopfung der Autobahnen und Züge: «Wer im sogenannten Grünen wohnt, hat heute längere Wege. Auch das spricht für die Stadt.»

Für die Stadt an und für sich. Eine Berner Spezialität gibt es trotzdem: Der Wohnungsbau, der jetzt wieder boomt, war hier schon immer besonders zu Hause. Huber spricht von einer Tradition, die andere Städte nicht kennen, und die begann mit einem «Paukenschlag» um 1960: mit der Halensiedlung des Ateliers 5 in Herrenschwanden. Neu waren damals weniger die strengen Formen der Bauten, neu war das Konzept – lauter kleine Einheiten, die auf wenig Raum viele Bewohner unterbringen, ihnen aber viel Privatsphäre gewähren, während zugleich ein ganzes Geflecht von Wegen und Plätzen urbane Öffentlichkeit schafft. Und das alles mitten auf einer Lichtung im Wald. Werner Huber zählt Halen zu den zehn wichtigsten Objekten der Schweizer Architektur im 20. Jahrhundert.

Qualität, die sich tarnt
Und das Tscharnergut, immerhin die erste Grosssiedlung der Schweiz, die ein Jahr vor der Halensiedlung eingeweiht und dieses Jahr fünfzig Jahre alt wurde? «Für die breite Bevölkerung war es spektakulär», sagt Huber. Doch der Wurf des Ateliers 5 habe die grössere Ausstrahlung in Fachkreisen gehabt, und zwar international: «Die Luftbilder des Stücks Stadt mitten im Wald sind um die Welt gegangen, überall sind kleine Halensiedlungen entstanden.»

Für das Atelier 5 war Halen ein Segen. Für die Branche ein Ausnahmefall: Sonst seien die Berner Architekten nie richtig über Bern hinausgekommen, meint Huber. In Basel sei die Architektur gefördert worden durch ein reges politisches Klima und die vielen Wettbewerbe, in Zürich durch die Präsenz der ETH und der Fachpublikationen. Die Berner dagegen – sie hatten den Wohnbau, der selten genug für Aufsehen sorgt. Und sie hatten die Altstadt mit ihrem ewigen Sog. Vielleicht geht es ja darum im hiesigen Bauen ähnlich zu wie unter den Lauben: «Stürmische Entwicklungen fehlen, die Qualität liegt in der Konstanz.»

Qualität in und um Bern haben Werner Huber und seine Autoren gefunden, auch wenn sie sich tarnt in der Konstanz. 84 Beispiele «guter und interessanter Architektur» aus den letzten zwanzig Jahren stellen sie im Führer vor, dazu kommen prägende Bauten aus dem letzten Jahrhundert, alles nach Stadtteilen gegliedert und in einer Sprache gehalten, die nicht nur Fachleute verstehen.

84 Bauten — für Huber 84 Beweise, dass Bern und die zeitgenössische Architektur mehr miteinander zu tun haben, als die Altstadt verrät. Was Benedikt Loderer im Nachwort über das städtische Geschehen schreibt, das längst über Berns Gemeindegrenze hinausreicht, gilt wahrscheinlich auch für die Architektur dieser Stadt: «Bern ist viel grösser als in den Köpfen.» (Der Bund)

Das Buch

Werner Huber (Hrsg.), Dominique Uldry (Fotos) (2009): Bern baut. Ein Führer zur zeitgenössischen Architektur 1990–2010, Edition Hochparterre, Scheidegger & Spiess. (216 Seiten, 130 Abb., 35 Franken)







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