Tutorium` Raumproduktion

Veranstaltung 6, 30. März 2009

Text 1
Belina, Bernd/Michel, Boris (2007): “Raumproduktionen“, In: Belina, Bernd/Michel, Boris (Hgg) 2007: Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster, S.7-3:

Gemeinsamkeit aller kritisch-materialistischen Raumforschungen:
Nicht der Raum an sich ist von Interesse (seine „Identität“/“Wesen“), sondern die spezifische Rolle, die Räumlichkeit in sozialen Prozessen gegebenenfalls spielt. (Belina, S.8)

→ Def. Raumtheorie: integriert „Arbeiten, in denen im Rahmen kritischer Theorie von den bei der Analyse konkreter gesellschaftlicher Praxen und Prozesse nachgewiesene Raumrelevanzen auf allgemeingültigere Zusammenhänge abstrahiert wird.“ (Belina, S.8)

→ sucht nach Regel- und Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlich relevanten Strukturen des sozial produzierten Raums (als Unterabteilung kritisch-materialistischer Gesellschaftstheorie)


Henri Levebvre: (Produktion des Raumes und totaler Mensch)
zentral: dialektisches Verhältnis u. Interaktion zwischen Marginalität und urbaner Zentralität; diese Dialektik provoziert eine urbane Revolution (!Keine politische, obwohl Levebvre Marxist!) → neue, „urbane Praxis“ löst die industrielle ab und macht Selbstverwirklichung des Menschen möglich

→ Raum wird (mit Dialektik Zentrum-Peripherie) als Ergebnis menschlicher Entfremdung im Kapitalismus und als Katalysator des Kampfes um ihre Überwindung relevant

Levebvre versteht den „Raum“ in den Dimensionen von Materialität, Bedeutung und „gelebten Raum“ als Produkt sozialer Praxis. Raum gilt ihm also weder als „an sich“ und außerhalb der Gesellschaft existente „Sache“ noch als reine Idee ohne Verbindung zur Materialität der Welt (S.17)

wenn Raum gesellschaftlich produziert wird, dann ist damit auch gesagt, dass seine Produktion in der grundlegend von antagonistischen Widersprüchen und Konflikten bestimmten kapitalistischen Gesellschaft umkämpft ist; dass in ihr Interessen und Strategien aufeinander treffen und ihr Verlauf und Ergebnis von Machtverhältnissen bestimmt ist. Den entscheidenden Einfluss auf die Produktion des Raums sieht Levebvre bei Kapital und Staat. (S.18)

„Der Kapitalismus und der Neo-Kapitalismus haben den abstrakten Raum produziert, der auf globaler ebene die „Welt der Ware“, ihre „Logik“ und ihre Strategien enthält und zugleich die Macht des Geldes und die des Staates“ (S.18)

Punkte in Levebvres Raumtheorie, an die andere anknüpfen (u.a. Soja, Gregor..)
1. Idee, Raum als soziales Produkt zu verstehen
2. in ihm werden abstrakte soziale Prozesse und Strukturen konkret
3. Raum ist gesellschaftlich konstruiert→ alle Raumproduktionen sind umkämpft


Michel Foucault: (Raum und Technologien der Macht)

Keine explizit formulierte Raumtheorie, aber Verständnis immer sichtbar

Auch Foucault interessiert sich in seinen Untersuchungen weniger für „den Raum“ oder eine allgemeine Raumtheorie, als vielmehr für räumliche Beziehungen, die Verteilung und Anordnung von Dingen und Menschen und die damit verbundenen, verwickelten Verhältnisse von Diskurse, Wissen und Macht.

Er geht von Diskursen und gesellschaftlichen Praktiken aus und untersucht deren Raumproduktionen und räumliche Wirkungen. Nicht „der Raum“ bildet den Ausgangspunkt, sondern bestimmte Räume werden untersucht, weil sich in ihnen „Kämpfe, Kraftlinien, Konfrontationspunkte und Spannungen“ manifestieren und deshalb „Raum, bei jeglicher Machtausübung fundamentale Bedeutung“ zukommt.
(S. 20)

Beide, Levebvre und Foucault, richten sich gegen „Raumfetischismus“, der dem Raum an sich Eigenschaften zuschreibt.

David Harvey: (Räume des Kapitalismus)
Das Problem einer angemessenen Konzeptionalisierung des Raums wird durch menschliche Praxis in Bezug auf ihn gelöst. Anders formuliert gibt es keine philosophischen Antworten auf philosophische Fragen, die das Wesen des Raums betreffen – die Antworten liegen in der menschlichen Praxis. Die Frage „Was ist Raums“ wird deshalb ersetzt durch die Frage „Wie kommt es, dass unterschiedliche Praxen unterschiedliche Raumkonzepte hervorbringen und nutzen?“ (S.24)

Konkretere Fragstellung für ihn wichtig: in welcher Weise ist Raum in der politischen Ökonomie des Kapitalismus relevant? („Limits to Capital“): Spannung zwischen Fixiertheit und Bewegung

Gegenseitige Kritik:
Foucault kritisiert den zeitgenössischen Marxismus und wird daraufhin von Levebvre für deine Historisierung und Banalisierung von Marx kritisiert


Text 2
Mitchell, Don (1997): „Die Vernichtung des Raums per Gesetz. Ursachen und Folgen der Anti-Obdachlosen Gesetzgebung in den USA“, In: Belina, Bernd/Michel, Boris (Hgg) 2007:Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster, S. 56-290

Der Text analysiert den Diskurs um die Anti-Obdachlosengesetze in der Stadt Seattle. Im Folgenden werden zentrale Aussagen des Textes in Themengebiete zusammengefasst:

Kapital und Raum:
Globalisierung ist eine fortlaufende Produktion und Reproduktion von gewissen Arten von Räumen (s. 257)

Der Raum wird im Kapitalismus auf seine Funktion als reiner Produktionsfaktor reduziert (s. 271)

Es herrscht eine Konkurrenz der Orte (also der Räume) für Kapitalakkumulation (s. 257). Daher wollen PolitikerInnen und ManagerInnen der New Economy die Städte möglichst „attraktiv“ in dem Sinne gestalten, dass sich Menschen (und Kapital) in ihnen ohne Hindernis, Anstrengung, oder Teilnahme bewegen können. Damit basiert unsere Mobilität auf der Immobilität der Obdachlosen (s. 285).

Obdachlosigkeit und ökonomische Globalisierung nehmen parallel zu (s. 280)

Problem und Diskurs Obdachlose:
Die Diskussion um „Obdachlosigkeit als Folge von ökonomische Ursachen“ wurde von einem Diskurs abgelöst der, „Obdachlosigkeit als ein Individuelles Problem“ ansieht. In diesem wird folgendermassen argumentiert: Obdachlose sind „unselbständige, geistes kranke Individuen“, die Obdachlosigkeit als Lebensstil wählen (weil sie die Hilfsprojekte der Stadt grösstenteils ablehnen) (s. 275-277).

Obdachlose bedrohen die ordnungsgemässe Bedeutung des Raums und die Ideale der rechtmässigen Bürger (s. 279, 280).

Privates Eigentum wird Voraussetzung für Bürgerschaft (s. 281). Obdachlose ohne (Grund-)besitz müssen ihr Leben gesamtheitlich in der öffentlichen Sphäre leben, was nicht akzeptiert wird (s. 266f)

Daher sind Rechte der Obdachlosen nicht von Bedeutung (s. 280f.)

Anti-Obdachlosen Gesetze:
Die Argumentation der Gesetzgeber lautet: Der beste Weg zur Bekämpfung von schwere Kriminalität ist die Bekämpfung von harmlosen Delikten (s. 264). → Erfindung von Kriminalität, so dass das Überleben der Obdachlose selbst kriminalisiert wird (s. 261). Logik: Wenn Gesetze gelten, verschwinden die Obdachlosen (s. 264).

Die Regulation (durch Gesetze) ist nicht konzipiert um die Ökonomie zu regulieren, sondern deren Opfer (s. 274).

Die Anti-Obdachlosen-Gesetze stellen eine Politik der urbanen Ästhetik über die Politik des Überlebens (s. 287). → StadtpolitikerInnen versuchen (durch Gesetze) die öffentlichen Räume der Stadt durch Landschaften zu ersetzen, indem sie die (oftmals unbehaglichen und mühseligen) heterogenen Interaktionen des öffentlichen Lebens durch das Visuelle substituieren (s. 284ff.)

Auf den Punkt gebracht:
Anti-Obdachlosen-Gesetze sind eine Reaktion auf die veränderten Bedingungen der Kapitalakkumulation welche aktiv Obdachlosigkeit produzieren (s. 273) (durch Massenentlassungen, Zeitarbeit, Auslagerung der Produktion, Demontage des Sozialstaates, Gentrification und Sanierung günstiger Wohnungen u. a. (s. 272, 275, 280))

Diskussionspunkte:
  • Ist ein kapitalistisches Wirtschaftssystem ohne Obdachlosigkeit möglich? Indem z.B. Die Sozialpolitik die negative Auswirkungen der Kapitalakkumulation kompensiert?
  • Bspl. BERN: Reitschule (keine Obdachslose aber gleiches Prinzip): Könnte der Diskurs um die Reitschule auch „nur“ auf der Grundlage von (kulturellen) Werten bzw. Toleranz gedacht werden (und NICHT auf der Grundlage der Kapitalakkumulation)?
  • Kritik am Autor: Der Raum ist nach Mitchell NUR durch den Kapitalismus geprägt. Seid ihr damit einverstanden bzw. Was wären andere Faktoren, die Raum produzieren?
  • Was wird durch die Präsenz Obdachloser wirklich beeinträchtigt? Laut Autor vor allem der „Tauschwert“ des (öffentlichen) Raums. Was ist mit dem Gebrauchswert?
  • Bspl. BERN: Grosse Schanze und Kocherpark nachts. Der öffentliche Raum soll für alle da sein, aber was passiert wenn aufgrund einer kleinen Gruppe der Grossteil der Bevölkerung Angst hat diesen Raum zu betreten? Legitimiert das eine Intervention? Wer entscheidet dies?
  • Könnt ihr den Gedanken von Lefebvres „urbaner“ Revolution nachvollziehen?


Protokoll

Präsentation:
Es werden zwei Texte von Belina Bernd/Michel Boris und Don Mitchel besprochen.

Der erste Text liefert die theoretischen Grundlagen für die Diskussion, der Text von Mitchel befasst sich anhand konkreter Beispiele mit der Frage, wie Raum per Gesetz, für bestimmte Bevölkerungsgruppen (konkret für Obdachlose) verschlossen wird.

Belina /Michel geben einen Überblick über verschiedene Autoren, welche sich mit der Raumdiskussion befasst haben. Dies sind Levebvre, Foucault und Harvey, welche wir schon aus früheren Stunden kennen. (Zusammenfassung; siehe Handout).

Anhand eines Modells, das den zeitlichen Ablauf einer „New Economy“ zeigt, erklären die beiden Referierenden wie sich Mitchel das Phänomen der Obdachlosigkeit erklärt.

„Nicht Obdachlose“ können sich frei im Raum bewegen und sind auf den öffentlichen Raum nicht in dem Masse angewiesen wie dies die Obdachlosen sind. Da die urbane Ästhetik und auch die urbane Sicherheit durch die Obdachlosen gefährdet scheint, und somit die Attraktivität einer Stadt sinken könnte, entsteht ein politischer Diskurs, welcher die Obdachlosen kriminalisiert. Die einfachsten Bedürfnisse, welche für Obdachhabende selbstverständlich sind, werden im öffentlichen Raum zu einem Delikt, da es dem Image einer Stadt schaden könnte. Nur, wie sollen denn die Obdachlosen so ihre Bedürfnisse befriedigen und wie kann gerechtfertigt werden, dass eine Urbane Ästhetik vor die urbanen, und grundlegenden Menschenrechte gestellt wird? Unsere Mobilität basiert dann letzen Endes auf der Immobilität der Obdachlosen.

Diskussion:
Der letzte Punkt der Präsentation, wird gleich zum Einstieg in eine Diskussion, darüber was dies bedeutet, dass wir unsere Mobilität auf der Immobilität der Obdachlosen aufbauen. Der ungestörte Konsum in den Städten sei durch die Obdachlosen bedroht. Die Obdachlosen können jedoch nicht ausweichen wie „wir“ dies können, denn sie haben keinen Ort an dem sie Ihre grundlegenden Bedürfnisse legal befriedigen dürfen. Wenn sie weggewiesen werden, dann kommt dies einer Kaschierung des Problems gleich. Und dies nur damit „wir“ uns frei bewegen können ohne uns einer negativen Realität des Kapitalismus stellen zu müssen.

Wir diskutieren was Obdachlosigkeit im Länderkontext bedeutet, ist jene der USA mit der der Schweiz zu vergleichen, und ist die Obdachlosigkeit beispielsweise in Südkorea nochmals etwas anderes? Oder spielt ein Unterschied schlussendlich keine Rolle weil es in jedem Fall ein Versagen des kapitalistischen Systems ist? Auch wenn wir in der Schweiz ein Sozialsystem haben welches Leute auffangen könnte welche „ durch die Gesellschaft fallen“, so kann man die Notwendigkeit eines solchen Auffangsystems als Versagen des Kapitalismus beurteilen.

Es entsteht eine Diskussion darüber ob es denn nicht genau gleich ein Vertuschen der sozialen Realität sei, wenn Sozialhilfe geleistet wird, wie wenn Obdachlose von der Strasse vertrieben werden.
Wir wenden uns einem anderen Diskussionspunkt zu. Nimmt die Obdachlosigkeit in Zeiten der Wirtsschaftskrise zu?

Wenn beispielsweise Deutschland Werkschliessungen zunehmen, ist die Vollbeschäftigung nicht mehr zu garantieren und die „untersten“ fallen aus dem System. Entweder werden sie arbeitslos, oder ihre Löhne werden gesenkt. Wir stellen uns die Frage ob es denn kein Zurück gibt aus der Sozialhilfe, und stellen fest, dass es von der Arbeitslosigkeit kein weiter Weg in die Sozialhife ist, und je nach Länderkontext, wenig fehlt, bis man auf der Strasse landet.

Als nächstes diskutieren wir den Punkt ob denn in dieser nur der Tauschwert betrachtet wird und dem Gebrauchswert weniger Gewicht beigemessen wird. Was ist denn der optimale Zustand? Ist es dass möglichst viele Gruppen den Raum brauchen können? Oder ist genau dies unrealistisch da sich immer Gruppen nicht wohl fühlen.

Es wird festgestellt, dass es hier nicht primär um das Problem der Obdachlosen an sich geht, sondern eher darum in wie weit die Urbanen Rechte und somit auch die Menschenrechte vom Staat beschnitten werden können, im Namen der Ästhetik. Was ist denn das grundsätzliche Ziel des öffentlichen Raumes? Bestimmt wirklich nur das Kapital, was auf der Politischen Agenda einer Stadt steht? Kann man das Unwohlsein einer Bevölkerungsgruppe damit verbessern, dass man einer anderen Bevölkerungsgruppe Grundlegende Rechte wegnimmt?

Nicht der Kapitalismus produziert diesen Raumdiskurs, sondern die Akteure des Kapitalismus. In unserer Diskussion wird der Kapitalismus oftmals als Akteur dargestellt. Wir sollten unseren Kapitalismusbegriff nicht so eng sehen.

Zum Schluss der Doppelstunde befassen wir uns noch mit der Manipulation der Gesellschaft durch Politische und Mediale Diskurse. Anhand von Beispielen aus Italien und der Schweiz wird aufgezeigt, dass wer die Macht über die Medien hat, viel Manipulation betreiben kann. Durch die bewusste Hervorhebung von Gewaltszenen oder unterschlagen von positiven Berichten werden Feind und Angstbilder konstruiert und randständige Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose oder auch AuländerInnen kriminalisiert.


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