Wohnungsnot` Genf wächst über sich hinaus

Denise Lachat, Der Bund, 21.02.2009

Die Genfer leiden unter permanenter Wohnungsnot. Weil Bauland in der dicht besiedelten Stadt knapp ist, soll die Cité de Calvin in Zukunft nicht in die Breite, sondern in die Höhe wachsen.


Thomas Büchi zeigt mit der Hand hinauf zum obersten Stock des geschwungenen, moosgrünen Mehrfamilienhauses, das an der Kreuzung der Rue des Bains und des Boulevard d’Ivoy steht. An diesem Beispiel lasse sich die Aufstockung gut veranschaulichen, sagt der Genfer Architekt, doch die Besucherin muss gestehen, dass ihr der Eingriff ohne Hinweis entgangen wäre. Es stimmt, der Stil der obersten Etage unterscheidet sich vom übrigen Gebäude, doch das leicht zurückgesetzte Stockwerk ist so dezent gestaltet, dass es keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Büchi liess Holz verwenden, denn der in Genf aufgewachsene Sohn von Thurgauer Eltern ist ein leidenschaftlicher Verfechter dieses Baumaterials : Er war einer der Konzepteure des vom Bund für die Expo.02 bestellten Palais de l’Equilibre.

Die Aufstockung des Eckgebäudes brauchte eine Ausnahmebewilligung, «ein unendliches Verfahren», stöhnt Büchi. Im Genfer Kantonsrat schlug der Freisinnige zusammen mit dem heutigen Nationalrat Hugues Hiltpold darum eine generalisierte Aufzonung als Massnahme gegen die Wohnungsnot vor. Im Ring um die historische Altstadt, also der Zone 2 aus dem 19.Jahrhundert, sowie in der suburbanen Zone 3 aus der Zwischenkriegszeit sollten nach dem Willen der Parlamentarier Gebäude um zwei Etagen respektive sechs Meter aufgestockt werden können. Sie schlugen damit einen Bogen zur Geschichte: Aufgestockt wurde in der Vergangenheit bereits die Altstadt, und zwar im 17. Jahrhundert, als Genf wegen der vielen Religionsflüchtlinge aus Frankreich aus allen Nähten platzte. Das stilistische Sammelsurium der Fassaden um den «Four de Bourg» zeugt von dieser historischen Entwicklung.

Heimatschützer skeptisch

Gegen das Gesetz wurde das Referendum ergriffen, doch ein zäh erarbeiteter Kompromiss am runden Tisch erübrigte schliesslich eine Abstimmung. Die neuen Maximalhöhen von 27 statt 21 beziehungsweise 30 statt 24 Metern (Zone 2) wurden beibehalten, doch an die Stelle einer generellen Aufstockung ist eine fallweise Prüfung getreten. Um die bauliche Harmonie eines Strassenzugs nicht zu gefährden, erstellt das Genfer Amt für Denkmalpflege ein Inventar jener Gebäude, die sich für eine Aufstockung eignen. Und um die Stadt nicht zu verdüstern, wird das Maximum von zwei zusätzlichen Stockwerken nur bei mindestens 24 Meter breiten Strassen erlaubt.

Trotz diesen Vorsichtsmassnahmen reagieren Heimatschützer wie Christoph Schläppi skeptisch. Der Berner Architekturhistoriker und Vizepräsident des Schweizer Heimatschutzes tritt zwar klar für verdichtetes Bauen ein, findet nachträgliche Eingriffe in Bauten städtischer Kernzonen aber nicht nur unter dem Aspekt der Denkmalpflege «sehr heikel». Man störe damit auch die Balance, die zwischen der Höhe der Gebäude und dem öffentlichen Raum bestehe.

Wo verdichten?

In Genf wird argumentiert, es mache Sinn, Wohnungen möglichst nahe am Arbeitsort zu bauen. Das vermeide unnötigen Pendelverkehr und erhalte ein Maximum an Grünflächen inner- und ausserhalb der Stadt. Schläppi sieht es gerade umgekehrt. Warum nicht die Aussenquartiere verdichten, fragt er und sagt: «Man muss doch keine Eulen nach Athen tragen. Das Land wird in den Einfamilienhausquartieren vergeudet, nicht in der dicht besiedelten Stadt.»

Damit in Genf tatsächlich neuer Wohnraum geschaffen wird, haben die Stimmbürger am Abstimmungswochenende Anfang Februar Zusätze in das Gesetz eingebaut: Wohnungen aus Aufstockungen dürfen nicht durch andernorts gebaute Büros kompensiert werden. Zudem darf ein Eigentümer die Kosten einer Aufstockung nicht auf die anderen Mieter überwälzen. Es ist darum zu erwarten, dass Eigentümer erst bei Fassadenrenovationen aufbauen, damit sich der Aufwand lohnt. Ins Gewicht fallen dürften die neuen Maximalhöhen vor allem bei Neubauten, während die umständlicheren Aufbauten marginal bleiben dürften. Nach Schätzungen des Genfer Baudepartements bringt ein zusätzliches Stockwerk etwa 15 Prozent mehr Wohnraum.


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