Griechenland - Der Aufstand hält an

ContraInfo, 16.12.2008

Während die kommerzielle Tagespresse zumindest in der Schweiz ihr Interesses an den Ereignissen in Griechenland zu verlieren scheint, gehen dort die Unruhen und Proteste so wie Besetzungen von Schulen, Rathäusern, TV- und Radiostationen unvermindert weiter. Zunehmend werden auch ganz konkrete politische Forderungen laut – oder sie erreichen langsam den deutschen Sprachraum. Die Beteiligten selbst und laut Umfragen auch das Gros der griechischen Bevölkerung sprechen nicht mehr von spontaner Wut und Trauer, sondern sehen die Ereignisse als einen Volksaufstand (popular Insurection). Die Ereignisse blieben jedoch für beobachtenden im Ausland schwierig einzuschätzen.

Ereignisse überschlagen sich weiter

Zwar haben die heftigen Strassenkämpfe etwas an Intensität verloren, doch die Strassenproteste in verschiedenen griechischen Städten halten an und immer wieder kommt es zu Zusammenstössen mit der Polizei. Verändert hat sich auch die hier wahrnehmbare Zielgerichtetheit der Proteste. Viele der Aktionen haben ihren Ausgang vor Polizeistationen, Gerichten und Gefängnissen, um dort Solidarität mit den Festgenommenen zu bekunden und um gleichzeitig gegen die Polizei zu demonstrieren - teilweise wurde gar die gänzliche Entwaffnung der Polizei gefordert. Demonstriert wurde aber auch vor dem Gefängnis, in welchem der Todesschütze in Untersuchungshaft sass, so dass dieser verlegt werden musste.

In verschiedenen Stadtteilen Athens haben sich lokale Initiativen gebildet, um die Proteste zu koordinieren und gemeinsame Forderungen zu formulieren. So war für heute eine Versammlung vor der Polizeihauptwache von Eksarhia angekündigt, dies mit der klaren Forderung, dass die Polizei den Stadtteil verlassen müsse. Ähnlichen Demonstrationen wurden auch aus den Stadtteilen Brahami, Sepolia, Petralona, Nea Ionia und Dafni gemeldet. Gestern Montag den 15. Dezember demonstrierten SchülerInnen und StudentInnen in Form eines Sit-In‘s vor einem Polizeihauptquartier in Athen. Der Protest sei zunächst friedlich verlaufen, eskalierte dann aber. Mehreren Augenzeugen berichteten, dass die Polizeikräfte versucht hätten die Blockade aufzulösen, dies mittels einem weiteren Einsatz von Reizgas, was dann zum Aufflammen neuerlicher Zusammenstösse geführt habe. Weiteren Berichten war zu entnehmen, dass es im Zuge dieser Zusammenstösse zu mehreren brutalen Übergriffen auf SchülerInnen gekommen war.

Auch die Justiz beginnt allmählich sich einzuschalten. Gestern Montag wurden erste Inhaftierte, welche im Verlauf der heftigen Krawalle von letzter Woche festgenommen worden waren, dem Haftrichter vorgeführt, was für viele Untersuchungshafthaft bedeutete. In ersten Schätzungen, welche mittlerweile auch einige Tage alt sind, ist die Rede von mehr als 200 Festgenommenen und über 70 verletzte Personen seit Beginn der Proteste am 6. Dezember. Offensichtlich ist es das Bestreben der Justiz mit einer Nulltoleranzlinie und harten Entscheiden der überforderten Polizei unterstützen beizustehen, um so mit Abschreckung den Wind aus den Protesten zu nehmen. Dies wird auch durch eine Aussage eines Richter bestätigt, der bei der Untersuchungshaftanhörung in Kozani gesagt haben soll: „Die Polizei kann sich nicht länger mit euch auseinandersetzen - also werden wir das tun!

Der Bericht zum Tathergang und den Umständen der Erschiessung von Alexis Grigoropoulos am, welche die Revolte ausgelöst hatte, wird noch immer unter Verschluss gehalten. Griechische Medien spekulieren, dass dies aus Angst vor neuerlichen schweren Unruhen geschehe. An die Öffentlichkeit gelang bislang nur, dass ein ballistisches Gutachten bestätige, dass die Kugel abgelenkt worden sei, dies wurde bisher aber nicht bestätigt. Dieser Darstellung widersprechen mehrere Augenzeugen der Tat noch immer. Darunter auch ein Freund von Alexis, der mit ihm bis zum Zeitpunkt dessen Todes unterwegs gewesen war und miterlebt hatte wie der Polizist gezielt auf Alexis geschossen habe, wie er in einem Interview am Sonntag gegenüber der renommierten griechischen Zeitung „Eleftherotipía“ bestätigte. Aussagekräftig ist jedoch auch, dass mittlerweile selbst der griechische Staatspräsident Papoulias (Sozialist) von „Mord” spricht.

Die gesamte Situation lässt es für die amtierende konservative Regierung zusehends heikel werden. Laut einer Umfrage der Tageszeitung "Kathimerini" stuft die Mehrheit der befragten GriechInnen die Proteste mittlerweile als „Volksaufstand" ein. Weitere Umfragen legen dar, dass bei nun abgehaltenen Neuwahlen die Konservativen an die fünf Prozent hinter den Sozialisten liegen würden – Neuwahlen werden aber von der konservativen Regierung weiterhin ausgeschlossen. Mittlerweile äussern BeobachterInnen die Befürchtung, dass sich die Ereignisse der 60er-Jahre in Griechenland wiederholen könnten. So bringt es ein deutscher Gewerkschaftsaktivist mit familiären Bindungen nach Griechenland wie folgt auf den Punkt: In den 60 er Jahren war die Situation schon einmal ähnlich gefährlich für die herrschende Klasse und sie beantwortete ihre Notlage mit einer sieben Jahre währenden Militärdiktatur.

Besetzungen halten an

Die Vereinigung der griechischen LehrerInnen (OLME) spricht derzeit von 400 Schulen und dazu etliche Universitäten, welche von SchülerInnen und StudentInnen besetzt seien, die Regierung ihrerseits bestätigt hingegen lediglich an die 100 besetzte Institute. In unzähligen Mitteilungen melden sich BesestzerInnen verschiedener Institute zu Wort und fordern darin die Fortführung der Proteste und formulieren klare politische Position. So auch StudentInnen der “School of Economics and Business“ in Athen:

Morgen geht die Sonne auf und nichts ist gewiss. Und was könnte befreiender sein als dies nach so vielen Jahren der Gewissheit? Eine Kugel vermochte es die triste Einöde dieser identischen Tage zu unterbrechen. Die Ermordung des 15 Jahre alten Jungen, war der Moment der Loslösung. Ein Moment stark genug um die Welt auf den Kopf zu stellen. Eine Loslösung von dem beständigen Warten auf den nächsten Tag. Die Loslösung führte zum kollektiven Gedanken: „Das war‘s, kein Schritt weiter, alles muss sich ändern, und wir werden es verändern.“ Die Rache für den Tod von Alex, wurde zur Rache für jeden einzelnen Tag, an dem wir gezwungen waren in dieser Welt aufzuwachen. Und was als so schwierig erschien, stellte sich als so einfach heraus.
Das ist es was passiert ist, was wir bewerkstelligt haben. Wenn uns etwas Angst macht ist es die Rückkehr zur Normalität. Weil in den zerstörten und geplünderten Strassen unserer ach so heilen Städte wir nicht nur die offensichtlichen Resultate unserer Rage sehen, sondern auch die Möglichkeit endlich leben zu beginnen. Uns bleibt nichts weiter zu tun als uns einzurichten in dieser realen Möglichkeit der Umwandlung in ein lebendiges Experiment: Angefangen beim alltäglichen Leben, unserer Kreativität, der Kraft unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, der Macht die Wirklichkeit nicht zu betrachten, sondern sie zu konstruieren, zu gestalten. Dies ist unser lebenswichtiger Raum. Alles andere ist Tod.


Bei mehreren Besetzungen von Radio- und TV-Stationen wurden solche Erklärungen verlesen und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Gerade heute wurde gemäss Indymedia Athen der staatliche TV-Sender NET von AktivistInnen für einige Minuten besetzt. In deren Verlauf wurden Bilder von StudentInnen ausgestrahlt, welche ein Transparent mit der Aufschrift “STOP WATCHING - EVERYONE TO THE STREETS!” in die Kamera hielten.

PC150027
Besetztes Regierungsgebäude in Ioannina

Eine Steigerung der Proteste in der politischen Dimension wird auch durch den Umstand der diversen besetzten Kommunal- und Stadtteilregierungsgebäude untermauert, welche nun teilweise schon mehrere Tage anhalten. So ist zurzeit (mir bekannt) die Saint Dimitrios City Hall/Athen, Halandri old City Hall/Athen, Ioannina City Hall/Ioannina und die Sykies City Hall/Thessaloniki von AktivistInnen besetzt. Englische Übersetzungen liegen mir leider bis anhin nur von der Besetzung in Saint Dimitrios vor, was mir konkrete Aussagen über Hintergründe und Motive nur für diese Besetzung ermöglicht. Jedoch lässt sich auch die Besetzung des Regierungsgebäude von Ioannina zumindest etwas einordnen - da wurde die schwarz-rote Fahne der libertären AnarchistInnen gehisst.

Seit der Besetzung des Regierungsgebäudes von Dimitros am 11. Dezember werden dort regelmässige Volksversammlungen abgehalten. An der ersten Versammlung am 13. Dezember beteiligten sich an die 300 Menschen aus dem gesamten Stadtteil. Seither ist der Ort zu einem wichtigen Zentrum für Informationsaustausch, einem lokalen Treffpunkt und einem Raum für die Selbstorganisation der BewohnerInnen des Stadtteils geworden. In der Einladung zu einer der ersten Versammlungen formulierten die BesetzerInnen Ihre Motivation:

Die Revolte hat uns einen Raum geöffnet, in dem wir uns endlich frei entfalten können. Als eine Fortführung der Revolte auf der Strasse, haben wir uns entschieden einen Schritt vorwärts zu gehen und haben das Regierungsgebäude von Ag. Dimitros besetzt, dies mit dem Ziel der Formierung einer Volksversammlung, die für alle offen ist.


Die Besetzung geniesst in der Bevölkerung eine gute Verankerung. Dies äussert sich nicht nur in der regen Beteiligung an den kommunalen Treffen, sondern auch in der Bereitschaft sich an der Verteidigung des Gebäudes gegen Angriffe der Polizei zu beteiligen. Weiter haben sich auch die Angestellten zu Wort gemeldet. In einem Schreiben solidarisieren sie sich mit den BesetzerInnen und bekunden deren Unterstützung.

Internationale Solidaritätswelle
Die Ereignisse in Griechenland lassen weltweit Menschen auf die Strassen gehen. Zu gewaltsamen Zusammenstössen mit der Polizei kam es dabei in Rom, Madrid und Barcelona sowie in Kopenhagen. In London, Berlin, Venedig und Bologna wurde schon letzte Woche kurzfristig die griechische Botschaft oder Konsulat besetzt oder blockiert. Zu weiteren Demonstrationen kam es unter anderem in Bern, in mehreren deutschen Städten, Dublin, Edinburgh, in mehreren farnzösischen Städten, Glasgow, Leeds, Ljubljana, Melbourne, Moskau, New Castle, New York, Sofia und St. Petersburg. Für den kommenden Samstag den 20. Dezember wird weltweit zu einem Aktionstag mobilisiert, somit dürfte die Serie globaler Sympathiebekundungen auch zukünftig nicht abreissen.

Quellen und weitere Infos
link_ikon alexisg.blogsport.de
link_ikon emeutes.wordpress.com
link_ikon Feature bei Indymedia Deutschland
link_ikon occupiedlondon.org
link_ikon tearsandangergreece.blogsport.de
link_ikon Occupation of Saint Dimitrios City Hall (Athens)
link_ikon Occupation of Halandri old City Hall (Athens)
link_ikon Occupation of Ioannina City Hall (Ioannina)


Creative Commons LicenseDieses Werk ist unter einer
Creative Commons-Lizenz
lizenziert.

Trackback URL:
https://rageo.twoday.net/stories/5393080/modTrackback