«Ich pendle, weil ich in Zürich keine bezahlbare Wohnung finde»

Matthias Chapman, 21.01.2011

Teurere Bahnbillette und mehr zahlen an der Zapfsäule? Leuthards neue Stossrichtung in der Verkehrspolitik stösst eine emotionsgeladene Debatte an.

[zum Kontext siehe unten]

Überfüllte S-Bahnen trotz Viertelstundentakt, Verbindungen alle 30 Minuten zwischen den grossen Städten und generell eine massive Zunahme bei den Bahnpassagieren: Der öffentliche Verkehr hat in der Schweiz in den letzten 20 Jahren eine atemberaubende Entwicklung hinter sich. Das war so gewollt und wurde bewusst gefördert. Dass Bundesrätin Leuthard nun auf die Bremse tritt, verstehen viele DerBund.ch/Newsnetz-Leser nicht: «Das kurze Gedächtnis des Bundesrates: Vor einigen Jahren verlangte Bundesrat Couchepin Mobilität von den Arbeitnehmern in der Schweiz – heute will Bundesrätin Leuthard nicht mehr, dass man durch die ganze Schweiz pendelt.»

Dass dies nicht nur als Gemecker abgetan werden kann, drückt ein anderer Leser aus: «Ich habe mir gerade ein Haus im Grünen gekauft und kann mir doch so ein Haus in Basel gar nicht leisten.» Das trifft wohl für viele zu. Der massive Ausbau des Verkehrsnetzes hatte zur Folge, dass sich die Menschen in Pendlerdistanz zu den Zentren niederliessen (vgl. Artikel zum Thema «Der gezüchtete Pendler»), und zwar mit folgender Rechnung: günstig und schön wohnen auf dem Land, gut verdienen in der City.

«Wenn Berner in Zürich und Zürcher in Bern arbeiten ist das Blödsinn»
Dass an dieser Rechnung nun geschraubt wird, stösst teilweise auf Empörung. «Ich arbeite in Zürich und wohne in Baselland. Weil ich muss und nicht weil ich es geil finde! Besorgt mir Leuthard einen Job in Basel oder eine bezahlbare Wohnung in Zürich?» Ein anderer Leser formuliert es so: «Meint Frau Leuthard ernsthaft, dass die Leute freiwillig und aus Spass pendeln? Wer findet mir eine bezahlbare Wohnung in Zürich?» Diese Sicht der Dinge gibt auch folgender Leser wieder: «Ich pendle, weil ich keine bezahlbare Wohnung in Zürich finde.»

Einige Stimmen halten dem allerdings dagegen: «Liebe Pendlerinnen und Pendler: Keiner wird gezwungen, an einem bestimmten Ort zu wohnen oder zu arbeiten. Daher rate ich euch dringend: Wohnt dort, wo ihr arbeitet – oder arbeitet dort, wo ihr wohnt. Aber pendelt nicht! Damit schont ihr die Umwelt und spart erst noch Geld.» Das ist wohl auch die Stossrichtung von Bundesrätin Leuthards neuer Verkehrspolitik. Unterstützung gibt es von diesem Leser: «Wenn Berner in Zürich und Zürcher in Bern arbeiten, ist das Blödsinn. Es braucht einen Gegendruck. Bessere Verbindungen haben den Nachteil einer regelmässigen Nutzung. Der Grundgedanke ist absolut richtig und erhöht die Chance auf einen Arbeitsplatz in der Nähe.»

Gutes Geschäft für Inlandflüge?
Als nicht ganz ernstgemeinte Alternative ist wohl dieser Vorschlag zu verstehen: «Vielleicht bietet Easyjet ja bald mal Inlandflüge wie zum Beispiel Möhlin–Basel an. Ich kann ja auch für 50 Franken nach Barcelona fliegen statt für über 60 Franken nach Zürich mit dem Zug.» Möglich aber, dass teurere Bahnbillette und höhere Preise an der Zapfsäule den Erfindergeist von Mobilitätsanbietern anregen.

Manch ein Leser glaubt auch ganz einfach einen Zusammenhang zwischen Leuthards Ankündigung und dem Wahljahr zu erkennen. «Bald sind Wahlen! Denkt nach!» Und die Empfehlung dazu gibts gleich auch noch: «Im Herbst 2011 kann jeder selber wählen, ob er diese Versager vom Staat wiederhaben will.» Ob der Vorstoss von Bundesrätin Leuthard aber wirklich auf Wahltaktik beruht, muss bezweifelt werden. Es ist wohl nicht sonderlich attraktiv, höhere Billettpreise und mehr Geld vom Autofahrer zu fordern.



sda, Der Bund, 20.01.2011

Alles wird teurer: Benzin, Zugbillette, Vignetten

Schlechte Nachrichten für alle Pendler in der Schweiz: Der Bundesrat schlägt vor, für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur vermehrt die Benutzer zur Kasse zu bitten. Und zwar nicht zu knapp.

Die Preise für Zugbillette sollen in den nächsten Jahren schrittweise um 10 Prozent steigen. Betroffen wären insbesondere die Pendlerinnen und Pendler, denn die Preise sollen nicht pauschal, sondern differenziert erhöht werden. Ziel sei es, die Verkehrsspitzen zu glätten, schreibt das Verkehrsdepartement (Uvek).

Pendler sollen zudem mehr Steuern bezahlen: Der Bundesrat will den maximalen Steuerabzug reduzieren. Künftig soll nur noch das Pendeln innerhalb von Agglomerationen steuerlich abzugsfähig sein. Damit würde der steuerliche Anreiz zum Pendeln über lange Distanzen abgebaut, schreibt das Uvek.

Doppelter Preis für Autobahnvignette
Teurer werden soll aber auch das Autofahren. In einem ersten Schritt will der Bundesrat den Preis für die Autobahnvignette anheben, von heute 40 auf 80 bis 100 Franken. Gleichzeitig will er eine Kurzzeitvignette zu rund 40 Franken einführen. Geschehen soll dies dann, wenn die Rückstellungen der Spezialfinanzierung Strassenverkehr unter eine Milliarde fallen, voraussichtlich 2014. Das Parlament muss die Änderung genehmigen.

In einem zweiten Schritt wird das Benzin teurer: Der Mineralölsteuerzuschlag soll um 7 bis 10 Rappen pro Liter erhöht werden. Diese Massnahme will der Bundesrat dem Parlament 2015 unterbreiten. Heute beträgt die Mineralölsteuer pro Liter Treibstoff rund 45 Rappen, der Zuschlag rund 30 Rappen. Der Zuschlag sei letztmals 1974 angepasst worden, gibt der Bundesrat zu bedenken. Zudem sei die Belastung durch die Steuer bedingt durch sinkenden Treibstoffverbrauch in den letzten Jahren gesunken.

Neuer Fonds zur Finanzierung
Nötig sind die Massnahmen laut dem Bundesrat, weil sowohl bei der Strassen- als auch bei der Bahninfrastruktur Finanzierungslücken drohen. Die Finanzierung soll daher auf eine neue Grundlage gestellt werden. Zur Finanzierung der Bahninfrastruktur will der Bundesrat einen neuen, unbefristeten Fonds schaffen, den Bahninfrastrukturfonds (BIF), der die bisherigen Gefässe ersetzt. Daraus sollen Betrieb, Unterhalt und Ausbau des Schienennetzes finanziert werden.

Der BIF soll zum einen mit den bisherigen Finanzierungsquellen des FinöV-Fonds alimentiert werden, also mit Geldern aus der LSVA sowie der Mineral- und Mehrwertsteuer. Damit flössen dem BIF unbefristet rund 1,8 Milliarden Franken pro Jahr zu. Bisher war vorgesehen, die Beiträge ungefähr 2023 auslaufen zu lassen. Zum anderen sollen diejenigen Mittel in den Fonds fliessen, die bisher aus der Bundeskasse für die Bahninfrastruktur eingesetzt wurden. Dies sind rund 2 Milliarden pro Jahr.

Rund 850 Millionen zusätzlich
Der zusätzliche Bedarf soll durch die erwähnten neuen Einnahmen gedeckt werden. 300 Millionen würden Bahnunternehmen über höhere Trassenpreise und Kunden über höhere Billettpreise beisteuern. Aus der Änderung bei den Steuerabzügen flössen dem Fonds 250 Millionen Franken pro Jahr zu. Weitere 300 Millionen sollen die Kantone zahlen.

Eine entsprechende Vorlage will der Bundesrat im Frühling in die Vernehmlassung schicken und in einem Jahr zuhanden des Parlaments verabschieden. Das letzte Wort zum Bahninfrastrukturfonds wird das Stimmvolk haben. Der Bundesrat unterbreitet dem Parlament die Vorlage als direkten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für den öffentlichen Verkehr» des VCS.

Gegen VCS-Initiative
Die Initiative empfiehlt der Bundesrat zur Ablehnung. Die vorgeschlagene Umverteilung der Mineralölsteuer-Erträge vom Strassen- in den Schienenverkehr würde das Finanzierungsproblem lediglich verlagern, hält er fest. Bahn- und Autofahrende vermehrt zur Kasse zu bitten, erachtet er dagegen als «vertretbar».

Der Bundesrat schlägt auch ein Konzept zum schrittweisen Ausbau der Bahn-Infrastruktur vor. Im Rahmen des Gegenvorschlags soll das Volk in einem ersten Schritt über Bauprojekte im Umfang von 3,5 Milliarden Franken abstimmen. (pbe/sda)


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