Der Schweizer Bundesrat (Bundesregierung) und das problematische Shoah-Gedenken

Hans-Ulrich Jost* am Mittwoch 30. Januar 2013 im Politblog des Tages-Anzeigers


Der Bundesrat wusste bereits 1942 über den Holocaust Bescheid

Die Pressemitteilung von Bundespräsident Maurer anlässlich des internationalen Gedenktages des Holocausts hat einmal mehr unsere Schwierigkeiten beim Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zutage gebracht. Anspielend auf diese dunkle Zeit, schliesst die kurze Meldung mit der Bemerkung, die Schweiz sei damals «für viele Bedrohte und Verfolgte zur rettenden Insel» geworden.

Doch dies galt ausgerechnet nicht für Juden. Ihnen ist der Status «politischer Flüchtling» nicht gewährt worden. Die Pässe der deutschen Juden wurden 1938 auf Betreiben der Schweiz mit ein grossen «J» gekennzeichnet, damit man sie gleich an der Grenze abfangen und zurückweisen konnte. Und 1942, als die systematische Vernichtung der Juden in Deutschland begann, sind Grenzübertritte vollständig gestoppt worden. Der Beschluss, den Juden nicht den Status des politischen Flüchtlings zu anerkennen, ist erst im Juli 1944 aufgehoben worden.

Oft kommt der Einwand, die Schweiz habe doch insgesamt 300’000 Flüchtlinge aufgenommen. Dies ist richtig. Doch der weitaus grösste Teil dieser Flüchtlinge kam erst ab 1944 ins Land. Für viele Juden war es da schon zu spät.

Zur beschönigenden Erklärung wird immer wieder angefügt, dass die für die schweizerische Flüchtlingspolitik verantwortlichen Beamte und Magistrate erst gegen Ende des Krieges über die systematische Tötung der Juden informiert waren. Diese Behauptung ist falsch.

Zahlreiche Schreiben unserer diplomatischen Vertreter im Ausland, sowie Berichte von glaubwürdigen Persönlichkeiten, haben schon 1941 die Behörden in Bern und den Bundesrat auf das schreckliche Vorgehen gegen die Juden aufmerksam gemacht. Eindringliche Rapporte kamen beispielsweise vom Schweizer Konsul in Köln, Franz von Weiss. Sogar Fotografien der Gräueltaten wurden nach Bern geschickt. Die Dokumente können heute online eingesehen werden unter www.dodis.ch.

Aufgrund der zahlreichen Berichte verfasste der stellvertretende Chef der Polizeiabteilung des Justizdepartements, Robert Jetzler, eine ausführlichen Bericht, der Ende Juli 1942 Bundesrat von Steiger vorgelegt wurde. Die Zustände seien so schrecklich, schrieb Jetzler, dass man «eine Rückweisung kaum mehr verantworten» könne. Doch der Bundesrat beschloss das Gegenteil, «auch wenn den davon betroffenen Ausländern daraus ernsthafte Nachteile (Gefahren für Leib und Leben) erwachsen könnten» (Protokoll Bundesrat 4.8.1942).

Im Herbst 1942 sprachen selbst Zeitungen von «Todestransporten». Die Behörden und die Zensur setzten alles daran, solche Berichte zu unterbinden. Man wollte Nazideutschland nicht reizen. Ein latenter Antisemitismus mag aber auch dazu beigetragen haben, dass man in gewissen Kreisen lieber die Augen schloss.

Diese und zahlreiche weitere Fakten sind seit den 1990er-Jahren bekannt und wurden auch verschiedentlich veröffentlicht. So etwa in den Berichten der Kommission Bergier. Ein Teil der Öffentlichkeit wollte jedoch diese dunklen Seiten der Geschichte nicht zu Kenntnis nehmen. Es kam sogar zu einer eigentlichen Hetzkampagne gegen die Kommission Bergier (uek.ch).

Andere wiederum versuchten, die Geschichte in ihrem Sinne zurechtzubiegen. Als man Herrn Maurer 1997 in einem Interview zum J-Stempel in den Pässen der deutschen Juden befragte, erklärte er, man habe «unter anderem als Schutz für die Juden, den Stempel eingeführt. Damit man wusste», fuhr Maurer fort, «dass diese Juden nicht mehr aus der Schweiz ausgewiesen werden» (Cash, 19.9.1997).

Das war eine glatte Umkehrung der historischen Tatsachen. Der J-Stempel wurde angebracht, um zu verhindern, dass deutsche Juden überhaupt in die Schweiz einreisen konnten.

Es stellt sich heute die Frage, ob die verklärende Darstellung der Haltung der Schweiz in der Pressemitteilung des Bundespräsidenten Maurer anlässlich des Holocaust-Gedenktages nur ein peinlicher Ausrutscher war. Oder ob sich dahinter nicht vielmehr eine Strategie verbirgt, mit der einmal mehr die Geschichte zugunsten einer vermeintlich heilen Schweiz manipuliert werden soll. Sicher ist jedenfalls, dass der Bundespräsident mit solchen Elaboraten das Ansehen der Schweiz im Ausland nicht befördern wird.

* Hans-Ulrich Jost ist Historiker und emeritierter Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Lausanne. Er ist Autor von «Politik und Wirtschaft im Krieg. Die Schweiz 1938-1948» (Chronos-Verlag).



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