Schweiz: Bundesgericht erlaubt Video-Überwachung in Echtzeit

Stefan Wyler, Der Bund, 14.10.10

"Es geht hier nicht um Big Brother"

Das Bundesgericht sieht im Berner Polizeigesetz eine genügende Gesetzesgrundlage für die umstrittene Videoüberwachung in Echtzeit. Es weist die Beschwerde von SP und Grünen mit 3 gegen 2 Stimmen ab.

Als der Grosse Rat im Herbst 2008 im Polizeigesetz die Videoüberwachung an öffentlichen Orten ermöglichte, da herrschte eitel Minne - selbst Linke und Grüne lobten die massvolle Vorlage, und alle betonten, man wolle keinen Big-Brother-Staat schaffen. Als der Regierungsrat dann aber im April 2009 die Videoverordnung präsentierte, kam es zum grossen Krach. "Durch die Hintertür" und gegen den Willen des Parlaments, so klagten jetzt SP und Grüne, habe die Regierung die Videoüberwachung in Echtzeit eingeführt. Das Polizeigesetz erlaube aber keine konstante Liveüberwachung des öffentlichen Raums, sondern lediglich eine nachträgliche Auswertung von Videoaufnahmen zur Aufklärung von Straftaten.

Wegen des Wirbels verzichtete die Regierung vorerst darauf, die umstrittene Verordnungsbestimmung sofort in Kraft zu setzen - und der Grosse Rat überwies in der Folge mit grossem Mehr (und auch mit vielen Stimmen aus SP und Grünen) eine FDP-Motion, die sich für die Echtzeitüberwachung aussprach. Darauf setzte die Regierung die Verordnung in Kraft.

Die Linke geht ans Bundesgericht
Damit aber war die Sache noch nicht gegessen, denn SP und Grüne hatten bereits zuvor gegen die umstrittene Verordnung Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Die Regierung, so klagten sie, habe mit der Einführung der Echtzeitüberwachung ohne genügende gesetzliche Grundlage ins Grundrecht der persönlichen Freiheit eingegriffen und die Gewaltenteilung verletzt. Und so befasste sich gestern in einer öffentlichen Sitzung die erste öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts mit der bernischen Videogesetzgebung - und war sich nicht einig. Die Frage war: Findet die Einführung der Echtzeitüberwachung in Artikel 51 a des Berner Polizeigesetzes eine genügen de gesetzliche Grundlage? Zwei Bundesrichter sagten Nein - und sie setzten stark auf die historische Auslegung des umstrittenen Artikels, der ihnen in seinem Wortlaut nicht eindeutig erschien.

Was die Grossräte einst sagten
In der Grossratsdebatte zum Polizeigesetz sei die Einführung der Echtzeitüberwachung kein Thema gewesen, sagte Bundesrichter Jean Fonjallaz, und er zitierte ausführlich aus dem Ratsprotokoll: So sagte damals der BDP-Mann Ueli Spring: "Es ist definitiv keine aktive Überwachung, das heisst, es sitzt niemand hinter irgendeiner Kamera und überwacht die Situation eins zu eins." FPS-Grossrat Jürg Scherrer beklagte, dass keine Echtzeitüberwachung eingeführt werde, worauf der Präsident der vorberatenden Kommission, Markus Meyer (SP), erwiderte, man spreche eben "ausdrücklich von Bildaufzeichnung": Es laufe eine Kamera, und wenn irgendetwas passiere, habe man die Möglichkeit, die von der Kamera aufgezeichneten Bilder auswerten zu lassen. "Es geht hier nicht um den Big Brother, genau das wollen wir nicht". Niemand widersprach.

Aus den Protokollen ergebe sich klar, so folgerte Bundesrichter Fonjallaz, dass der Grosse Rat keine Echtzeitüberwachung habe einführen wollen. Und an diesem historischen Willen des Gesetzgebers könne auch die spätere Grossratsdebatte zur FDP-Motion nichts ändern. Der Grosse Rat könne nicht durch eine spätere Interpretation ein Gesetz korrigieren. So nehme er den Gegnern die Referendumsmöglichkeit. Fonjallaz und ein Richterkollege sahen darum die Gewaltenteilung verletzt.

Keine Angst vor Big Brother
Anders jedoch sah dies die Bundesgerichtsmehrheit. Zuallererst, so befanden die drei Richter, müsse man ein Gesetz nach seinem Wortlaut auslegen. Und der Wortlaut sei klar. Das Gesetz erlaube Geräte zur Bildaufzeichnung und Bildübermittlung. "Was hat das denn für einen Sinn, die Bildübermittlung zu erlauben, wenn am anderen Ende niemand sitzen und die Bilder sichten darf?", fragte Bundesrichter Heinz Aemisegger. Und Bundesrichter Niccolò Raselli erklärte, es könne doch nicht sein, dass der schwerwiegendere Eingriff in die Persönlichkeitsrechte (die Aufzeichnung und Aufbewahrung der Videobilder) vom Gesetz gedeckt sei, nicht aber der weniger schwere Eingriff (die blosse Übermittlung). Befürchtungen bezüglich Big Brother fand die Gerichtsmehrheit ausserdem unbegründet. Nur unter streng definierten Voraussetzungen und an exponierten Orten werde im bernischen Recht die Videoüberwachung erlaubt.




SDA, Berner Zeitung, 14.10.10

Bürger dürfen überwacht werden

Die vom Berner Regierungsrat erlaubte Live-Videoüberwachung an deliktexponierten Orten stellt laut Bundesgericht kein Problem dar. Die Richter haben die Beschwerde der Grünen und der SP des Kantons Bern abgewiesen.

2008 hatte der Berner Grosse Rat das Polizeigesetz geändert. Gemeinden wurde das Recht eingeräumt, mit Zustimmung der Kantonspolizei an öffentlichen und frei zugänglichen Orten, wo Straftaten zu erwarten sind oder bereits begangen wurden, Geräte zur Bildaufzeichnung oder -übermittlung zu installieren.

Gesichter nicht erkennbar
Rund ein halbes Jahr später erlaubte der Regierungsrat in seiner Videoverordnung die Konsultation der übermittelten Bilder in Echtzeit. Die Gesichter von gezeigten Personen sind unkenntlich zu machen, ausser es wird eine kritische Situation erkennbar.

Die SP Kanton Bern und die Grünen des Kantons Bern gelangten dagegen ans Bundesgericht. In ihrer Beschwerde argumentierten sie, dass der Grosse Rat bei der Änderung der Polizeiverordnung eine Live-Überwachung ausgeschlossen habe. Zugelassen worden sei einzig eine nachträgliche Auswertung der Bilder im Falle einer Straftat.

Die I. Öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in Lausanne hat die Beschwerde an ihrer Sitzung von gestern nun abgewiesen. Eine Mehrheit von drei der fünf Richter kam zum Schluss, dass für die vom Regierungsrat eingeführte Echtzeit-Überwachung mit dem Polizeigesetz eine genügende gesetzliche Grundlage besteht. Dieses spreche von Aufzeichnungs- und Übermittlungsgeräten. Der Einsatz von Letzteren würde laut Gericht kaum Sinn machen, wenn am anderen Ende nicht jemand sitzen und die Bilder in Echtzeit sichten dürfte. Andernfalls würde die Überwachung nichts nützen. Im Übrigen gehe der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte betroffener Personen bei einer Echtzeitüberwachung weniger weit als bei der anerkannten Möglichkeit von Aufzeichnung, Aufbewahrung und gegebenenfalls Auswertung der gemachten Bilder. Schliesslich betonte das Bundesgericht, dass es bei der fraglichen Live-Sichtung nicht um den von den Beschwerdeführern befürchteten "Big Brother" gehe. Grüne und SP bedauerten gestern in einer ersten Stellungnahme den Entscheid. Die Beratung habe aber gezeigt, dass in heiklen Fragen wie der Videoüberwachung höchstmögliche Sorgfalt angewendet werden müsse.




NZZ 14.10.10

Videoüberwachung auch in Echtzeit

Gesetzmässige Berner Regelung

Lausanne · Der Regierungsrat des Kantons Bern durfte die polizeiliche Videoüberwachung gefährlicher Orte in Echtzeit auf dem Verordnungsweg regeln. Das Bundesgericht hat am Mittwoch eine dagegen gerichtete Beschwerde aus sozialdemokratischen und grünen Kreisen abgewiesen. Der Entscheid fiel nach kurzer öffentlicher Beratung mit drei gegen zwei Stimmen eher knapp. Nach Auffassung der Mehrheit in der I. Öffentlichrechtlichen Abteilung ist die fragliche Bestimmung in der regierungsrätlichen Video-Verordnung durch den neuen Art. 51a des Polizeigesetzes gedeckt. Danach dürfen die Gemeinden im Einverständnis mit der Kantonspolizei an gefährlichen Orten Geräte zur Aufzeichnung oder zur Übertragung von Bildern aufstellen. Die Übertragung von Videobildern aber macht für die Mehrheit im höchsten Gericht nur Sinn, wenn das Übertragene auch beobachtet werden darf. Die Minderheit dagegen war davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung der Bilder in Echtzeit über deren Aufzeichnung oder Übertragung hinausgehe und daher einer gesonderten gesetzlichen Grundlage bedürfe.

Urteil 1C_315/2010 vom 13. 10. 10 - Begründung ausstehend.


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