Welthungertag am 16. Oktober - ein Interview mit Urs Wiesmann CDE Bern

link_ikon Die aktuelle Ausgabe des Lunapark21 (Heft 7, 2009) hat ebenfalls einen Schwerpunkt auf der Hungerthematik:

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«Die Lage verschlechtert sich wieder»

Marcus Moser, Berner Zeitung, 10. Oktober 2009

HUNGER - Nach Revolten in Entwicklungsländern rief man im Vorjahr eine globale Hungerkrise aus. Heute protestiert niemand mehr. Problem gelöst? Überhaupt nicht, sagt der Berner Geograf Urs Wiesmann. Weil immer mehr Menschen Fleisch und Milch konsumierten, gerate in armen Ländern die Produktion der Kleinbauern unter Druck.

Urs Wiesmann, was bedeutet Ihnen der Welthungertag am 16.Oktober?

Urs Wiesmann: Ich finde es ausserordentlich wichtig, dass wir uns aktuell wieder mit dem Hunger befassen. Die Wahrnehmung dieses Problems hat in den letzten Jahren stark nachgelassen.

Warum?
Der Hunger hat relativ gesehen in den letzten fünfzig Jahren massiv abgenommen. Die Anzahl der hungernden Personen ist in absoluten Zahlen zwar stabil geblieben. Da die Weltbevölkerung aber zugenommen hat, ist sie relativ dazu gesunken.

Aktuell leben rund sieben Milliarden Menschen auf der Welt. Man geht davon aus, dass eine Milliarde hungert.

Das trifft in etwa zu. 1970 war ein Drittel der Weltbevölkerung unterernährt, heute ist es ein Siebtel. Die Industrialisierung der Landwirtschaft war in der Vergangenheit ein Erfolgsmodell, die Erträge konnten in den letzten fünfzig Jahren relevant gesteigert werden. Jetzt weisen aber viele Indikatoren darauf hin, dass sich die Situation erneut verschlechtern wird.

Vor einem Jahr erschrak die Welt über Hungerrevolten in Afrika, in Asien und in Lateinamerika mit Hunderten von Toten. Warum kam es damals zu diesen Aufständen?
Die Ursache lag direkt in den starken Preissteigerungen für Nahrungsmittel.

Die Lage hat sich wieder entspannt...
Aber nur vorübergehend. Historisch betrachtet haben sich die Nahrungsmittelpreise in den letzten fünfzig Jahren halbiert - und sind nun in kurzer Zeit enorm gestiegen. Wenn man sich vor Augen führt, dass arme Leute über 50 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, dann hat eine Preissteigerung um 20 Prozent sofort heftige Folgen. Die Preisreduktionen der letzten Monate haben nicht mit einer besseren Angebotssituation zu tun, sondern mit der wirtschaftlichen Rezession ab Mitte 2008. Die Energie- und die Düngerpreise sind gesunken, was das Preisniveau der Nahrungsmittel insgesamt wieder vermindert hat.

Wenn die Weltwirtschaft sich erholt, steigen die Nahrungsmittelpreise wieder?
Die Preise für alle benötigten Ausgangsstoffe sowie die Energiepreise werden erneut steigen. Die Hungersituation wird sich weiter verschärfen.
Dennoch würde die weltweite Nahrungsmittelproduktion für alle Menschen reichen. Wir haben ein Verteilproblem.
Die Gesamtmenge der produzierten Lebensmittel würde reichen. Aber wir können global eine Verschiebung von Konsummustern beobachten, die das Hungerproblem akzentuieren: Die Nachfrage nach veredelten Nahrungsmitteln steigt und erhöht den Druck auf die Produktion von Grundnahrungsmitteln in der Dritten Welt.

Bleiben wir bei der Verschiebung der Konsummuster: Was verschiebt sich wo?

Nehmen wir Indien und China: Der wirtschaftliche Erfolg hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen in diesen beiden Ländern mehr Geld für Nahrungsmittel haben. Im Bild: Früher gab es vor allem Reis ? und nur bei einem Festessen Hühnchen dazu. Jetzt ist es vielen Menschen möglich, sich bei jedem Essen Hühnchen zu leisten. In China hat sich der Fleischverbrauch zwischen 1990 und 2005 verzweieinhalbfacht und der Milchverbrauch verdreifacht.

Welche Folgen hat das?
Bisher waren es eine Milliarde Menschen in den westlichen Ländern, die veredelte Nahrungsmittel in grossen Mengen konsumieren konnten. Mit den Erfolgen der indischen und chinesischen Wirtschaft kommen nun in relativ kurzer Zeit weitere zwei Milliarden hinzu. Die Veredelung von Nahrungsmitteln braucht aber mehr Ressourcen: mehr Boden, mehr Dünger, mehr Wasser, mehr Energie. Indien und China und andere aufstrebende Länder können dies auf ihrem Territorium zunehmend nicht mehr produzieren, wodurch ein Nachfragedruck auf andere Weltgegenden entsteht und statt Grundnahrungsmittel veredelte Nahrungsmittel angebaut werden.
Dazu passt die Meldung, dass finanzkräftige Länder Boden in armen Ländern pachten, um sich die künftige Nahrungsmittelbasis zu sichern. Entwicklungsorganisationen sprechen von einem «neuen Kolonialismus».
Das ist ein sehr aktuelles Beispiel. Die Veränderung der Konsummuster bringt vermögende Nachfrager wie China, Indien, Libyen, die Golfstaaten, Südkorea und andere dazu, sich in Entwicklungsländern Boden für die eigene Lebensmittelproduktion sichern zu wollen.

Was bedeutet dies für die betroffenen Entwicklungsländer?
In allen Fällen sind die Kleinbauern die Leidtragenden, weil sie von ihrem Land verdrängt werden und so die Produktion den lokalen Trägern entzogen wird. Dies wird bei weitem nicht kompensiert durch die entstehenden Arbeitsplätze in diesen Regionen. In einigen Ländern wehrt sich die Bevölkerung gegen die Absicht der Regierung, ausländischen Investoren Land zu verpachten. In Madagaskar tat sie es mit Erfolg gegen die Landnahme durch den südkoreanischen Konzern Daewoo.

Die weltweite Nahrungsmittelherstellung steht vor einem Strukturproblem?
Das grosse Wachstum der Nahrungsmittelproduktion der letzten Jahrzehnte ist ja primär auf eine industrialisierte Landwirtschaft mit grossem Ressourcenverbrauch zurückzuführen. Das geht nicht mehr. Die Fortsetzung dieser Produktionsmethode führt dazu, die Lebensgrundlage der Kleinbauern und ihrer Familien zu zerstören. Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen wären dramatisch, weil sie mindestens einen Drittel der Weltbevölkerung direkt betreffen.

Es gilt also, die kleinbäuerlichen Produktionssysteme zu unterstützen?

Die Zukunft der globalen Ernährungssituation hängt davon ab, was mit den Kleinbauern passiert. Die Erfolgsgeschichte der industriellen Landwirtschaft der letzten fünfzig Jahre lässt sich nicht direkt übertragen. Es braucht neue, innovative Ansätze.

Welche?
Kleinbäuerliche Betriebe werden nicht über Nacht innovativ. Sie brauchen ein Umfeld und ein Wirtschaftssystem, das auf Innovation ausgerichtet ist und entsprechende Versuche tatkräftig unterstützt. Entwicklungszusammenarbeit könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Paradoxerweise wird die Nothilfe forciert und die Entwicklungszusammenarbeit abgebaut.

Aber sind Kleinbauern denn in der Lage, eine ausreichende Lebensmittelbasis zu sichern?
Ja, wenn die Rahmenbedingungen angepasst werden.

In welcher Weise?
Vor allem braucht es verlässliche Absatzmöglichkeiten und verlässliche Preise. Wichtige Infrastrukturen wurden in den letzten Jahren vernachlässigt; es braucht Strassen, Kommunikationsmöglichkeiten und regionale Märkte, auf denen die Produkte angeboten werden können. Die Zusammenarbeit der Kleinbauern muss generell gestärkt werden.

Muss die kleinräumige Landwirtschaft vor der globalen Wirtschaft geschützt werden?
Nein. Die Kleinbauern und ihre Produkte müssen ein Teil der globalen Wirtschaft sein. Aber die Agrarwirtschaft muss so organisiert sein, dass die Risiken für die kleinbäuerliche Produktionsweise gesenkt werden ? und nicht erhöht. Für den Norden heisst das: Die Subventionen für den eigenen Agrarbereich müssen abgebaut werden, ebenso die Handelshemmnisse gegenüber Produkten aus dem Süden. Und dann darf die Überschussproduktion des Westens nicht mehr zu Dumpingpreisen angeboten werden.

Wer setzt das durch?
Ich habe die Hoffnung, dass durch die Finanzkrise bestimmte Verhaltensweisen langfristig diskreditiert und zum Beispiel bei den internationalen Verhandlungen im Rahmen der Doha-Entwicklungsagenda der WTO doch noch Durchbrüche erzielt werden können. Nach Jahren der Vernachlässigung braucht es eine neue Wertschätzung für die kleinbäuerliche Landwirtschaft.

Welchen Beitrag dazu kann denn nun ein Programm wie der Nationale Forschungsschwerpunkt Nord-Süd an der Universität Bern leisten?
Zur Förderung eines angepassten innovativen Umfelds gehört auch eine gestärkte Forschung und Wissenschaft in den Ländern der Dritten Welt. Mit ihren Erfahrungen in all diesen Bereichen können die Schweiz und die Universität Bern hier wichtige Unterstützung leisten, die schliesslich zur Bewältigung der Hunger- und Armutsproblematik beiträgt.

Was können wir als Konsumentinnen und Konsumenten tun?
Da gibt es verschiedene Aspekte. Als Konsumenten sollten wir generell Produkte meiden, die eine schlechte Ökobilanz haben. Und wenn wir an die Kleinbauern denken, dann wäre es wichtig, Produkte aus fairem Handel zu unterstützen.

Ist das realistisch? Selbst in der wohlhabenden Schweiz werden Lebensmittel aus Bioproduktion nur von einem geringen Teil der Konsumenten gekauft.
Ja, aber die Wachstumsraten sind hoch. Das Bewusstsein verändert sich und erzeugt Druck; soziale und umweltverträgliche Standards spielen eine wachsende Rolle, gerade auch in Schwellenländern.

Der Autor: Marcus Moser ist Historiker und arbeitet als Kommunikationschef der Universität Bern.


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