Kein "Big Brother" in Bern

Ivo Gehriger, Der Bund, 16.5.09

Videoüberwachung In der Stadt Bern gibt es vorläufig keine Videokameras im öffentlichen Raum zur Vorbeugung und Aufklärung von kriminellen Handlungen. Das Stadtparlament hat am Donnerstagabend einen Vorstoss der FDP mit 41 zu 25 Stimmen abgelehnt.
Es war der erwartete Glaubensstreit: Die Linke wehrte sich mit Händen und Füssen gegen die Einschränkung des Persönlichkeitsschutzes, die FDP und die SVP warben für den punktuellen Einsatz an neuralgischen Orten. Videoüberwachung sei trügerisch und verspreche zu viel, kritisierte die Ratslinke. Kameras könnten helfen, Kriminalität zu bekämpfen, votierten die Bürgerlichen. Ihr Vorstoss erlitt aber Schiffbruch - auch weil sich die Motionäre nicht einig waren. Die FDP wolle nicht nur ein "Postulätli", sondern einen verbindlichen Auftrag, sagte Fraktionssprecherin Dolores Dana.


"Big Brother" bleibt draussen
Videoüberwachung sei trügerisch, kritisierte die Ratslinke. Kameras könnten helfen, Kriminalität zu bekämpfen, votierten die Bürgerlichen. Ihr Vorstoss erlitt letztlich aber Schiffbruch - auch weil sich die Motionäre untereinander nicht einig waren.

Bis weit in die Nacht hinein gingen die Wogen im Berner Stadtrat am Donnerstag hoch: Nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren erhitzten sich die Gemüter ob des Themas Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Anlass zur neuerlichen Debatte bot eine Motion: FDP, SVP und CVP forderten in ihrem gemeinsamen Vorstoss den Gemeinderat auf, "den gezielten und den Datenschutz wahrenden Einsatz der Videoüberwachung in die Wege zu leiten".

Nause will Volksabstimmung

Mit dem Ansinnen stiessen die Motionäre bei Sicherheitsvorsteher Reto Nause (cvp) auf offene Ohren. Er war 2008 als Stadtrat einer der Erstunterzeichner des Vorstosses. Als Gemeinderat wollte Nause nun aber beliebt machen, die Motion in ein Postulat umzuwandeln. Der Regierungsrat habe die Ausführungsbestimmungen zur Einführung von Videoüberwachung jüngst verabschiedet: "Gemeinden können nun Videoüberwachung beim Kanton bestellen." Er, Nause, sei aber der Ansicht, dass zunächst ein Grundsatzentscheid pro oder kontra Videoüberwachung gefällt werden müsse. Dieser solle möglichst breit abgestützt sein - "am besten durch eine Volksabstimmung".

"Wollen kein ,Postulätli‘"

Damit gab sich die FDP nicht zufrieden: "Wir wollen nicht ein ,Postulätli‘, sondern einen verbindlichen Auftrag", sagte Fraktionssprecherin Dolores Dana. Die Motion sei bewusst offen formuliert, ergänzte Philippe Müller (fdp). Videoüberwachung sei kein Allheilmittel gegen Kriminelle, doch an gewissen Orten könne sie helfen, die Kriminalität zu bekämpfen. "Doch der Gemeinderat drückt sich", stellte Müller fest. Die Stadtregierung habe alle Grundlagen, nun sei ein Entscheid angezeigt und nicht - "einmal mehr" - Abwarten, sagte Müller. Uneingeschränkten Sukkurs bekam er von der Fraktion SVP plus: "Der Gemeinderat muss gezwungen werden, Farbe zu bekennen", sagte Jimy Hofer.

"Gier nach Überwachung"
Die Ratslinke trat entschieden gegen die Forderung an: "Videoüberwachung verspricht zu viel und ist trügerisch", sagte Hasim Sancar für die GB/JA-Fraktion. Gerade in England zeige sich, dass die Kriminalität trotz Unmengen von Kameras nicht abgenommen habe. Mit der Überwachung würden Grundrechte beschnitten, kritisierte Giovanna Battagliero (sp). Wenn ein neuralgischer Ort überwacht werde, verlagere sich der Brennpunkt einfach an einen neuen Ort. "Die Gier nach noch mehr Überwachung wäre nicht mehr aufzuhalten", ergänzte Rolf Zbinden (pda). Kritik von der Ratslinken erntete auch der kantonale Polizeidirektor Hans-Jürg Käser (fdp). Dieser habe, entgegen dem Willen des Grossen Rates, die Echtzeitüberwachung in die Verordnung einfliessen lassen ("Bund" von gestern und vom 1.Mai).

CVP warnt FDP
Der Regierungsrat habe das Vertrauen verspielt, hielt Daniel Klauser für die GFL/EVP-Fraktion fest. Dem Gemeinderat wolle man nun keinen Blankoscheck geben. Zudem sei der Nutzen von Kameras fragwürdig, die Kosten aber seien hoch. Für die GLP ist Videoüberwachung "nur Ultima Ratio", wie Claude Grosjean sagte. Seine Fraktion könne allenfalls zu einem Postulat Ja sagen.
Diesen Ball nahm Edith Leibundgut (bdp/cvp) auf: Die Stadtregierung brauche einen Auftrag, sagte sie, sonst sei sie nicht handlungsfähig. Leibundgut schlug angesichts des breiten Widerstands und der Haltung des Gemeinderats die Postulatsform als Kompromiss vor. Der Erstunterzeichner Philippe Müller bestand indes auf der Motion. Er mache sich damit "zum Totengräber der Videoüberwachung", warnte Henri-Charles Beuchat (cvp) den Freisinnigen. Beuchat bekam recht: Der Stadtrat lehnte die Motion mit 41 zu 25 Stimmen ab. Videoüberwachung ist damit vom Tisch - zumindest bis zum nächsten Anlauf.


Interview mit einem schlechten Verilerer...

Sicherheit in der Innenstadt - Überwachung "auf Eis gelegt"
Mirjam Messerli, BZ, 16.5.09

"Mir sind die Hände gebunden", sagt der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) nach dem Nein des Parlaments zu Videoüberwachung. Ohne politischen Auftrag arbeite der Gemeinderat kein Konzept aus.

Reto Nause, das Stadtparlament hat die Einführung von Videoüberwachung in der Stadt Bern abgelehnt. Ist das Projekt damit definitiv vom Tisch?

Reto Nause: Das Projekt Videoüberwachung ist auf Eis gelegt. Mit einem Ja zur bürgerlichen Motion hätte das Parlament den Gemeinderat ja erst beauftragt, ein detailliertes Konzept für die Videoüberwachung auszuarbeiten. Diesen Auftrag haben wir nun aber nicht bekommen.

Was unternehmen Sie als Sicherheitsdirektor weiter?
Im Moment nichts. Mir sind die Hände gebunden. Der Ball liegt ganz klar beim Stadtrat. Er muss der Sicherheitsdirektion das Signal geben, dass eine Überwachung gewisser Brennpunkte in der Stadt erwünscht ist. Bevor wir dieses Signal nicht erhalten haben, macht es keinen Sinn, ein solches Mammutprojekt zu starten.

Sie sprechen von Mammutprojekt, weil die Videoüberwachung umstritten ist?

Es ist sehr komplex, in einer Stadt ein solches Projekt umzusetzen. Zuerst muss der Grundsatzentscheid gefällt sein und müssen die innerstädtischen Zuständigkeiten geregelt werden. Dann müssen mögliche Standorte für Kameras ausgewählt und abgesegnet werden. Und zuletzt muss die Finanzierung geklärt sein.

Für Aufregung sorgte, dass die vom Grossen Rat abgelehnte Echtzeitüberwachung vom Polizeidirektor Hans-Jürg Käser doch in die Verordnung aufgenommen wurde. Hat er Ihnen damit einen Bärendienst erwiesen?
Absolut nicht. Für mich war immer klar, dass Echtzeitüberwachung im Gesetz als Möglichkeit vorgesehen sein muss. Sonst machen Kameras für mich überhaupt keinen Sinn.

Weshalb nicht?
Nehmen wir das Beispiel Fussballstadion: Weshalb soll man den öffentlichen Raum rund ums Stadion überwachen, wenn man die Bildschirme nicht anstellt? Die Polizei muss in Echtzeit beobachten können, ob sie irgendwo einschreiten muss.

Wo macht Echtzeitüberwachung für Sie sonst noch Sinn?
Ich finde, die Stadt St. Gallen hat das gut gelöst. Dort gibt es in der Innenstadt Notrufsäulen. Wenn jemand den Notrufknopf drückt, schaltet sich gleichzeitig die Überwachungskamera an, und bei der Polizei ist das Videobild auf dem Bildschirm zu sehen. Soweit müsste Echtzeitüberwachung meiner Meinung nach auch in Bern möglich sein. Wenn ich mit Sicherheitsdirektoren anderer Städte spreche, kommen da alle zum gleichen Schluss.

Die Innenstadt-Organisation Berncity ist enttäuscht über den Entscheid des Stadtrats. Was können Sie besorgten Bürgern anstelle von Videoüberwachung bieten?
Polizeipatrouillen, die zu Fuss unterwegs sind. Hier hat der Gemeinderat zusammen mit der Kantonspolizei einen Schwerpunkt gesetzt und die Patrouillen in der Innenstadt verstärkt. Dieses Level wollen wir auf jeden Fall beibehalten.

Im Stadtrat hörte man in letzter Zeit immer wieder den Ruf nach mehr Sicherheit. Weshalb ist die Videoüberwachung trotzdem gescheitert?

Die Debatte hat mich ratlos gelassen. Ich fand es unverständlich, dass Motionär Philippe Müller seinen Vorstoss nicht in ein mehrheitsfähiges Postulat umgewandelt hat. Wenn es wirklich um die Sache gegangen wäre, hätte er so weit entgegenkommen müssen. Und die Mitte-Links-Parteien hätten die mild formulierte Motion überweisen müssen, wenn ihnen tatsächlich an mehr Sicherheit gelegen ist.


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