Tutorium` Neoliberalismus, Wegweisungs- und Perimeterpolitik der Stadt Bern

Veranstaltung 8, 20. April 2009

Peck, Jamie / Tickell, Adam (2002): Neoliberalizing Space
Die Autoren charakterisieren den Neoliberalismus als wandlungsfähigen Prozess, der sich durch zwei markante Brüche auszeichnet. In der Phase der Nachkriegszeit bildet sich aufbauend auf Ideen von Intellektuellen wie Friedman oder Hayek ein „Proto-Neoliberalismus“ heraus, der zunächst in der ideellen Sphäre verbleibt. Mit dem Scheitern des Keynesianismus in den 70er Jahren vollzieht sich ein erster Bruch hin zum „Roll-Back-Neoliberalismus“. Unter Federführung von Reagan und Thatcher werden neoliberale Rezepte zunehmend durch die Politik umgesetzt, welche sich durch eine weitreichende Marktliberalisierung und die Demontage des Sozialstaates auszeichnen. Als sich negative Konsequenzen zunehmend bemerkbar machen, kommt es zu einem weiteren Bruch hin zum „Roll-Out-Neoliberalismus“. Die mit der Politik von Clinton und Blair verbundene Ära kennzeichnet sich durch die Naturalisierung der Ökonomie und eine Politisierung des Sozialen. Während die Marktprozesse als scheinbar unabwendbare Tatsachen hingenommen werden konzentriert sich die Politik auf die Regulation des Sozialen mit zunehmend repressiveren Mitteln wie z.B. die Kriminalisierung der Armut.

Den räumlichen Ausdruck der Neoliberalisierung verorten die Autoren in einer verstärkten interurbanen Konkurrenz, so dass sich die lokale Politik immer einseitiger auf einen Standortwettbewerb ausrichtet. Damit reagiert sie einerseits auf den übergeordneten Makroprozess des Neoliberalismus, trägt aber gleichzeitig auch zu dessen Aufrechterhaltung bei. Kernpunkt der Argumentation bildet schliesslich die aus den dargestellten historischen und geographischen Veränderungen abgeleitete These, dass die Wandelbarkeit und die Krisenüberwindungsfähigkeit des Neoliberalismus bisher oftmals unterschätzt wurden.

Ptak, Ralf (2007): Grundlagen des Neoliberalismus
Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 scheitert der bis dahin dominierende Wirtschaftsliberalismus. Als Ursache für die Krise werden dem Wirtschaftsmodell innewohnende Faktoren ausgemacht, so dass in der Folge versucht wird, durch staatliche Eingriffe ungewollte Erscheinungen des Marktes zu vermeiden. Die theoretischen Grundlagen dazu liefert der Ökonom Keynes, die entsprechende politische Umsetzung bildet der moderne Wohlfahrtsstaat.

Gegen diese Auslegung formiert sich die neoliberale Theorie, die nicht von einem Markt- sondern von einem Politikversagen, d.h. von exogenen Faktoren für die Wirtschaftskrise ausgeht. In unterschiedlichen Schulen („Freiburger Schule“ (Eucken), „Wiener Schule“ (Hayek, Mises), „Chicagoer Schule“ (Friedman)) entwickeln sich mehrere neoliberale Ansätze, so dass aufgrund der programmatischen und strategischen Bandbreite nicht von einer einheitlichen, in sich geschlossenen Theorie gesprochen werden kann. Als international bedeutsames Netzwerk für die Formulierung und den Austausch neoliberaler Ideen etabliert sich die 1947 gegründete MPS (Mont Pélerin Society). Den unterschiedlichen Ausprägungen des Neoliberalismus gemeinsam ist ein ausgeprägtes Freund- Feind-Denken, das sich in einer pauschalen Ablehnung von allen sozialistischen, sozialdemokratischen oder kollektivistischen Ideen äussert und diese mit Begriffen wie Unfreiheit, Zwang oder Knechtschaft assoziiert. Demgegenüber stellen sie ihr Ideal der individualistischen Marktgesellschaft.

Lösch, Bettina (2007): Der Mythols der zivilen Gesellschaft als herrschafts- und machtfreier Raum

Ausgehend vom umkämpften Begriff „Zivilgesellschaft“ kritisiert der Text die positive Bezugnahme auf die zivile Gesellschaft. Aus linksliberaler Sicht wird dieser Terminus immer noch mit demokratischer Selbstbestimmung und politischer Partizipation verbunden. Unter einem neoliberalen Regime scheint diese Auslegung allerdings fragwürdig, da eine angemessene Berücksichtigung von Herrschafts- und Machtstrukturen ausgeblendet wird. Im Neoliberalismus kommt es nämlich zu einer zunehmenden Kommerzialisierung des Sozialen, so dass das Individuum letztendlich isoliert in einer von Konkurrenzethik geprägten Gesellschaft zu bestehen hat. Sprachlicher Ausdruck dieses Prozesses bilden Wortschöpfungen wie z.B. „Ich-AG“ (Unwort des Jahres 2002). Damit wird der Staat zusehends von sozialen Risiken befreit, übernimmt aber gleichzeitig immer öfters autoritäre Kontroll- und Überwachungsfunktionen: „Statt von einer „zivilen“ kann deshalb gegenwärtig eher von einer „Marktgesellschaft“ gesprochen werden“ (Lösch, S. 270).

Thesen
  • Da die gegenwärtige Krise als Scheitern des Neoliberalismus gelesen werden kann, ist damit zu rechnen, dass die von ihm vorangetriebenen Regulationsmassnahmen (Überwachung, Repression, Privatisierung des öffentlichen Raums) in Zukunft geringer werden.
  • Der Keynesianismus wurde nicht aktiv vom Neoliberalismus verdrängt sondern ist an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert (Wachstumszwang, Staatsverschuldung). Dementsprechend hätte dem Keynesianismus auch ein ganz anderes polit-ökonomisches Modell folgen können.
  • Die Regulation des Sozialen mittels Repression ist ebenso Kosten verursachend wie ein tragfähiges Sozialsystem. Deshalb macht diese Verschiebung der Prioritäten im Neoliberalismus schon rein aus ökonomischer Perspektive keinen Sinn.

Fallbeispiel: Wegweisungs- und Perimeterpolitik der Stadt Bern

Chronologie der Wegweisungspraxis in Bern
1998 - Gemäss dem Kantonalenpolizeigesetz (PolG) Art. 29B kann die Polizei Menschen von einem Ort wegweisen, wenn „der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören“. Die Wegweisung durch die Polizei gilt für einen der fünf Perimeter in der Stadt Bern.

1999 - Der Gesetzesartikel wird dreimal überarbeitet. Das erste mal bereits 1999: es mussten die Fernhalteperimeter eindeutiger ausformuliert werden

2000 - Reduktion der Wegweisungsdauer von anfänglich einem Jahr auf nun 3 Monate

2002 - Anweisung an die Beamten die Wegweisungen genauer zu dokumentieren. Die Wegweisungsbedingungen wurden von einem anfänglichen Totalaufenthaltsverbot darauf reduziert, dass die Weggewiesenen sich nicht an einer störenden Szenebildung beteiligen dürfen.

2006 - Das Bundesgericht taxierte den Artikel als „geeignetes Mittel“ um negative Erscheinungen“ im Umfeld von Drogen- und Alkoholszene zu verhindern und bewertete den Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen als nur geringfügig. Im schriftlichen Urteil hielt das Bundesgericht aber fest, dass Wegweisungen erst dann möglich seinen, wenn der Alkohol- und Drogenkonsum in Gruppen und in erheblichem Masse erfolge. Weiter wurde ausdrücklich festgehalten, dass negative Reaktionen Dritter keinen Wegweisungsgrund darstellen. Obwohl laut Polizei dies der meist ausgesprochene Verweis ist und eine Richtungsmotion um Praxisänderung im Stadtrat angenommen wurde, hat sich an der Praxis der Behörden nichts geändert.

2007 - Annahme des neuen Bahnhofreglements (u. a. Mit Bettelverbot, Privatisierung von Sicherheits- und Kontrollaufgaben, Nutzungsbeschränkungen wie Verbot sich auf die Treppe zu setzten, Verhaltensnormierungen wie Verbot von „ungebührlichem Benehmen“)

2007 - Referendum „Öffentlicher Raum für Alle“ gegen das Bahnhofreglement

2008 - Abstimmung: 74,9% Ja-Stimmen für das Bahnhofreglement

2008 - Inkrafttreten des Reglements per 1. Oktober

Die Städte Zürich, Chur, Basel, St. Gallen, Luzern und Basel kennen ähnliche Gesetzte und liegen damit im globalen Trend.

Thesen
  • Dass Repressionsmassnahmen in Städten oftmals von linken Regierungen umgesetzt werden, zeigt wie dominant die kapitalistische/neoliberale Logik des Standortwettbewerbs ist.
  • „Der Zugang von Juden, Prostituierten und nationalen Minderheiten zum öffentlichen Raum war in der Geschichte immer beschränkt“ (zit. In: Gasser 2005). Da Ausschlusspraktiken schon in vorkapitalistischen Gesellschaften existiert haben, ist es unzulässig aktuelle Phänomene wie die Vertreibung aus dem öffentlichen Raum der kapitalistischen/neoliberalen Logik zuzuschreiben.
  • Verhalten das im Bahnhof Bern (resp. in der Berner Innenstadt) als störend empfunden wird, ist auch andernorts störend. Konsequenterweise müsste deshalb die Perimeterpolitik oder das Bettelverbot ausgeweitet werden.
    Da der öffentliche Raum den zunehmenden und nicht immer vereinbaren Nutzungsformen nicht gerecht werden kann, ist eine Zonierung sinnvoll.
  1. Damit wird gewährleistet, dass alle – wenn auch an unterschiedlichen Orten - ihre Nutzungsansprüche wahrnehmen können (Artikel Lütscher 2008).
Literaturtipps
Harvey, David (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Rotpunkt
Mullis, Daniel (2009): Neoliberale Stadt – Entwicklung und Folgen einer neoliberalen Stadtpolitik



Protokoll:

1. Frage: Ist die aktuelle Weltwirtschaftskrise der Beweis für ein Scheitern des Neoliberalismus?

Antworten/Meinungen:
  • Vermutung: es ist noch zu früh um das beurteilen zu können
  • Die Krise ist eher als ein Scheitern des Kapitalismus überhaupt zu interpretieren, dessen Wirken wurde durch neoliberalistisches Wirtschaftshandeln nur beschleunigt

2. Frage (=These): Die gegenwärtige Krise kann als Scheitern des Neoliberalismus gewertet werden, daher kann damit gerechnet werden dass die von ihm vorangetriebenen Regulationsmassnahmen (Überwachung, Repression, Privatisierung des öffentlichen Raums) in Zukunft geringer werden.


Antworten/Meinungen:
  • Verinnerlichung von neoliberalen Idealen durch die (Wirtschafts-)“Elite“, deswegen ist ein Wandel nur sehr langsam möglich
  • Gegenthese: Nach Bewusstwerden der Krise, z.B. durch stark zunehmende Arbeitslosigkeit, wird eine Verschiebung des politischen „Fokus“ folgen. (Ist die Krise bei uns schon spürbar? Für wen?)
ABER: Handlungs-Spielraum und überhaupt Handlungsfähigkeit des Staates ist durch die neoliberale Praxis schon auf ein Minimum eingeschmolzen worden!
  • Internationale Hinweise für ein Festhalten an neoliberalen Grundsätzen: Neues UN-Strategie-Papier (weitere Legitimation von Repression) und IWF als „Retter in der Krise“ (durch massenweise Vergabe von Krediten) = neoliberal handelnde Institutionen! Ein zeitnahes Umdenken/-lenken in der internationalen Politik ist utopisch?
3. Frage: Welche Auswirkungen hat die Krise auf Soziales? Rassismus?

Antworten/Meinungen:
  • (Wo) Ist die Krise schon real, als echte Bedrohung spürbar?
  • Krisen haben in der Geschichte immer eine Prekarisierung der Lebensverhältnisse von gesellschaftlichen Randgruppen mit sich gebracht (Aktuelles Beispiel: die Roma in Osteuropa)
4. Frage: Bahnhofreglement Bern: „Das Volk“ stimmt in der Abstimmung mit 75 % „JA“ ; Warum?

Antworten/Meinungen:
  • Neoliberale Ideale verinnerlicht (Selbstverantwortung eines Jeden für sein „Schicksal“ = Legitimation für Verurteilung des Lebensstils von Obdachlosen/Bettlern); Die meisten Abstimmenden sind nicht selber direkt betroffen und können deswegen passiv bleiben bzw. dem „Konsens“ folgen
  • „Einleuchtende“, simple Argumentation gegen „Behinderung“ der Funktionalität des Bahnhofs durch Inbesitznahme von gebrauchtem Platz durch Bettler/Obdachlose (z.B. während der täglichen Rush-hour); Die verwendeten Legitimationsmuster wie „Öffentliche (Un)Ordnung“ oder „Begründeter Verdacht“ sind vielseitig interpretierbar und deswegen problematisch
  • Gegenposition: Pluralismus ist real! Vor allem und erst recht in Großstädten! Daher ist es unzulässig, aufgrund von „Unwohlsein“ einer Anzahl an Menschen die Grundrechte Anderer zu beschneiden.
  • Es findet immer Abwägen von Interessen in Machtgefügen statt: WER wird von WEM gestört? z.B. Demonstration in der Stadt: Abwägen von Recht auf Konsum/Recht auf Meinungsäußerung
  • Das Bahnhofsareal fungierte schon in Vergangenheit als „Testgebiet“ für Neureglementierung, danach folgte Ausbreitung auf weitere Stadtgebiete!
5. Frage: Das Bahnhofreglement ist ein Eingriff von Seiten des Staates. Wie verträgt sich das mit den Grundsätzen des Neoliberalismus?

Antworten/Meinungen:
  • Zwar Eingriff des Staates, aber Pro-Markt! Das entspricht dem neoliberalen Grundverständnis: Der Staat muss stark sein um dem Markt optimale Rahmenbedingungen schaffen zu können
  • Das Machtverhältnis zwischen Staat und Privatwirtschaft in Verhandlungssituationen ist bereits prekär, z.B. beliebige Privatisierung Berner Altersheime
6. Frage: Inwiefern spiegelt das Bahnhofsreglement auch den Sicherheitsdiskurs wieder?

Antworten/Meinungen:
  • Auch sozialdemokratische Interessensträger gehen mit eigentlich neo-keynesianischen Argumenten in die gleiche Richtung mit mehr Repression (siehe auch G8-Gipfel)
7. Frage: Worauf beruht der scheinbare Erfolg des Neoliberalismus (fast globale Ausbreitung)?

Antworten/Meinungen:
  • Aggressive Diskreditierung alternativer Wirtschaftstheorien durch einflussreiche (prominente und finanzstarke!) Unterstützer; Durch die Gründung der Mont Pélerin Society wurde eine Vernetzung der Denkwerkstätten und damit gemeinsame Lobbyarbeit möglich
  • Totalitäres Selbstverständnis der Vetreter, vollkommene Ignorierung von Alternativen
  • Der Neoliberalismus stellt für den Staat ein „Verlockendes System“ dar: Im Vergleich verlangt der Keynesianismus eine hohe Selbst-Disziplin vom Staat sowie die Bereitschaft zur Staatsverschuldung
Günstige Vorsituation für eine schnelle Übernahme des Neoliberalismus:
  • Vietnamkrieg, hohe Verschuldung der USA, Aufhebung des Bretton-Woods-Systems; Der Neoliberalismus lockt mit dem Versprechen von flexiblen Währungen, keine Verschuldung usw.
  • Individualismus ist Ideal zur Entlastung des Staates: Das Indiviuum ist komplett selbst verantwortlich für seinen eigenen (Miss-)Erfolg in seinem Leben! = funktionierendes Anreizsystem (ansprechender als im Kollektiv)
8. Frage (=These): Die Regulation des Sozialen mittels Repression ist ebenso Kosten verursachend wie ein tragfähiges Sozialsystem. Deshalb macht diese Verschiebung der Prioritäten im Neoliberalismus schon aus ökonomischer Perspektive keinen Sinn.

Antworten/Meinungen:
  • Sozialhilfe muss auch als repressiver Akt erkannt werden (keine Umverteilung für Wohlergehen Aller)
  • Vergleich von Sozialhilfe und Umverteilung: Wirkliche Umverteilung hält die Gesellschaft zwar auch „still“, kann aber auf die Dauer Machtstrukturen verändern, ist also ungewollt! (Spannende Entwicklung siehe China)
9. Frage: Was wäre die Alternative zum aktuellen, neoliberal geprägten Wirtschaftssystem?

Antworten/Meinungen:
  • Eine Umwälzung wird sehr schwierig/langwierig, da der Neoliberalismus weltweit eine riesige Tragweite erlangt hat
  • Eine Umstrukturierung des Kapitalismus reicht nicht aus, er ist zu unflexibel um ein zukunftsfähiges, tragfähiges Wirtschaftsmodell zu formen;
    Diskussion um die Wahrnehmung eines möglichen Wandels:
  • Medien: Politik ist schon längst viel zu ökonomisiert als dass alternative Meinungen in die Öffentlichkeit gelangen würden
  • Negatives wird nicht publiziert z.B. Ökologische Auswirkungen des Kapitalismus
  • Kritik an der Presse: Deklaration der eigenen Positionierung fehlt oft unzulässiger Weise!
Frage: Wie ist Alternatives auf kapitalistischer Basis möglich in der Nachrichtenlandschaft?
Folgerung: Individuum mit Eigeninitiative ist für das Ermöglichen von Wandel gefragt!


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