Gutverdiener müssen raus - aus Berner Sozialwohnungen

Daniel Vonlanthen, Der Bund, 16. 4. 2009

Berns Liegenschaftsverwaltung legt neue Vermietungskriterien fest: Wer monatlich mehr als den fünffachen Nettomietzins verdient, hat keinen Anspruch auf eine günstige Stadtwohnung. Bei Betroffenen regt sich Widerstand.

Rund 1600 Mieterinnen und Mieter von Stadtwohnungen haben dieser Tage eine Mietvertragsänderung erhalten. Darin macht die Stadt neue Einkommens- und Vermögenslimiten geltend. «Der monatliche Bruttolohn aller dauernd anwesenden Personen ist kleiner oder gleich hoch wie der fünffache Nettomietzins», lautet das Kriterium für Mieter, welche sogenannt günstigen Wohnraum beanspruchen. Als Basis gilt das Einkommen für eine Vollzeitstelle. Weiter hat die Stadt die Vermögenslimite, nach Abzug ausgewiesener Schulden, auf 144000 Franken festgesetzt.

Alleinstehenden steht höchstens eine Zweizimmerwohnung zu. Die Stadt gibt als Richtgrösse vor, dass eine Wohnung «maximal ein Zimmer mehr als dauernd anwesende Personen» zählen darf. Mieterinnen und Mieter, welche diese Kriterien nicht erfüllen, müssen mit der Kündigung rechnen. Die Liegenschaftsverwaltung bewirtschaftet rund 1200 Wohnungen, die als «günstig» eingestuft sind. Deren Mieten liegen unter dem städtischen Durchschnitt. Als günstig gelten beispielsweise Einzimmerwohnungen unter 500 Franken netto oder Vierzimmerwohnungen unter 1100 Franken.

Appell an die Mieterschaft

Die Vermietungskriterien seien bereits im Jahr 2000 eingeführt worden, hält die Liegenschaftsverwaltung fest. Per 1. Januar 2009 seien sie nun angepasst worden. Die neuen Kriterien treten Anfang August in Kraft. Als Einkommensgrundlage gelten die Angaben der letzten definitiven Steuerveranlagung. Die Liegenschaftsverwaltung begründet die Überprüfung der Mietverhältnisse mit ihrem Auftrag einer «gerechten Verteilung von günstigem Wohnraum». Nötigenfalls werde die Verteilung durch Kündigungen bestehender Mietverhältnisse oder durch Umsiedlung der Mieterschaft sichergestellt. Günstige Wohnungen sollten ausschliesslich Personen zur Verfügung stehen, die darauf angewiesen seien. Die Stadt appelliert an die «Fairness» gegenüber diesen Mitmenschen. Unterzeichnet wurde das Schreiben von Fernand Raval, Leiter Liegenschaftsverwaltung, sowie Renate Ledermann, Bereichsleiterin Immobilienverwaltung. Sie sind sich bewusst, «dass es bei vereinzelten Mietern zu schwierigen Situationen kommen könnte». Man werde bemüht sein, gemeinsam gute Lösungen zu finden.

«Ghettobildung» als Risiko
«Die Verwaltung ist sich wohl nicht bewusst, dass sie damit gewachsene Quartiere auf den Kopf stellt», sagt der Mieter einer Stadtwohnung in Ausserholligen, dessen Einkommen die Maximallimite übersteigt. Er schätzt, dass etwa die Hälfte der Mietparteien in der Umgebung die neuen Kriterien nicht erfüllt. Viele zogen als Studenten ein und haben inzwischen eine Familie und einen guten Job. «Wir haben diese Wohnung nicht erschwindelt», sagt der Mieter weiter. Beim Einzug vor neun Jahren habe man die Ansprüche erfüllt. Er warnt vor den Risiken, wenn die Kriterien buchstabengetreu umgesetzt werden: «Statt einer ausgewogenen sozialen Durchmischung droht die Ghettobildung.» Zudem sei die Einkommenslimite zu tief angesetzt, zumal viele Elternpaare Teilzeit arbeiteten. Die Liegenschaftsverwaltung stellt sich auf den Standpunkt, dass Teilpensen «gewollt oder aufgezwungen» seien. «Wenn nötig» müsse das Teileinkommen auf 100 Prozent aufgerechnet werden, hält Ledermann auf Anfrage fest.

«Neue Ungerechtigkeiten»
Auch die Siedlung Murifeld umfasst mehrheitlich günstige Wohnungen. Das Ziel einer möglichst gerechten Verteilung des Wohnraums sei zwar durchaus berechtigt, sagt eine langjährige Mieterin an der Kasthoferstrasse. Sie befürchtet jedoch, dass mit der Umsetzung «neue Ungerechtigkeiten» entstehen: «Soll eine betagte oder alleinstehende Person ihre Wohnung und damit ihr soziales Umfeld aufgeben, nur weil sie ein Zimmer zu viel beansprucht?» Die Lebensumstände und Einkommensverhältnisse seien einem schnellen Wandel unterworfen.

Im Murifeld, wo grösstmögliche Partizipation der Mieterschaft gelebt wird, funktioniere die soziale Kontrolle gut, sagt die Bewohnerin. «Die getreue Umsetzung der Kriterien führt zu einer aufwendigen Bürokratie», kritisiert sie. Gut möglich, dass die Liegenschaftsverwaltung mit ihrem Vorgehen eine Lawine von Anfechtungen auslösen wird.


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