London: «Wir verteilen den Wohlstand um»

Von Vincenzo Capodici, Der Bund, 09.08.2011

Der Frust von jungen Leuten ohne Perspektive hat sich in London und anderen englischen Städten in Gewalt entladen. Für manche Beobachter kommen die Ausschreitungen und Plünderungen nicht überraschend.

Nach London und Birmingham haben sich die schweren Ausschreitungen in der Nacht auf Dienstag auch auf die Städte Liverpool und Bristol ausgebreitet. Es kam zu Zusammenstössen zwischen Jugendlichen und Polizisten. Krawallmacher setzten Häuser und Autos in Brand. Im Londoner Stadtteil Hackney stürmten Hunderte Jugendliche Geschäfte. Auch Gruppen gewalttätiger Kinder zwischen 10 und 14 Jahren waren unterwegs. Plünderer erbeuteten Alkohol, Zigaretten, Süssigkeiten und Toilettenpapier.

«Wir haben keine Jobs und kein Geld. Wir haben gehört, dass andere Leute Sachen umsonst bekommen, warum also nicht wir», begründete ein Jugendlicher mit Baseball-Kappe die Plünderungen. Und ein 28-jähriger Mann, der sich selbst als Anarchist bezeichnete, sagte: «Das ist der Aufstand der Arbeiterklasse. Wir verteilen den Wohlstand um.» Die Randalierer sind offensichtlich frustriert. «Jemand muss uns helfen, aber wir bekommen keine Hilfe», sagt ein 26-Jähriger, der vor zehn Jahren die Schule verliess und nie einen Job hatte. «Man muss sich nicht wundern, wenn solche Dinge passieren», meint er zu den sich ausweitenden Krawallen in England.

Gewalttätige Reaktion der Habenichtse
Gemäss Reportern der Nachrichtenagentur Reuters, die Krawallmacher befragt haben, passierten die Ausschreitungen und Plünderungen spontan, weil sich die Gelegenheit dazu bot. Dies bedeute aber nicht, dass Wut und Frustration nicht echt seien. Der Zorn richtet sich nicht zuletzt gegen die Spitzenpolitiker, die sich gerade in diesen Tagen «obszön luxuriöse Ferien» in der Schweiz, in Italien oder Kalifornien gegönnt haben.

Die meisten Plünderer seien junge Menschen, die nichts zu verlieren hätten, sagte John Pitts, Kriminologe und Experte für Jugendkultur, der Zeitung «Guardian». Viele Jugendliche hätten nichts zu verlieren, «weil sie keine Zukunft haben». Hier gehe es nicht um einen Rassenkonflikt, sondern um einen Konflikt zwischen Begüterten und Habenichtsen, meint Mike Hardy, Direktor des Instituts für sozialen Zusammenhalt in London. Die Gewalt sei die Reaktion der Menschen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen worden seien.

Sparpolitik der Cameron-Regierung zulasten der Armen
Die Ausschreitungen und Plünderungen nahmen in der Nacht auf Sonntag im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham ihren Anfang, nachdem Polizisten einen 29-jährigen schwarzen Mann erschossen hatten. Unklar war, ob der Familienvater, der der Banden- und Drogenszene zugerechnet wird, das Feuer eröffnet hatte.

Von den Mitgliedern der konservativen Regierung, die eigentlich in den Ferien weilten, gab Vizepremierminister Nick Clegg als Erster eine Stellungnahme ab. Die Randalierer seien in erster Linie «opportunistische Kriminelle». Bewohner und Lokalpolitiker wiesen dagegen auf soziale Probleme und die Verschlechterung der Lebensbedingungen hin. David Lammy, Labour-Abgeordneter von Tottenham, sprach Klartext: «Die Unruhen fanden nicht in wohlhabenden Stadtvierteln wie Kensington statt, sondern in den ärmsten Bezirken.» Laut Lammy ist die Arbeitslosenquote in Tottenham die höchste in London und die achthöchste in Grossbritannien. Viele Jobs hängen von öffentlichen Geldern ab – und gerade dort spart die Regierung von David Cameron. Kindergeld, Betreuungsgeld, Wohnzuschüsse, Steuererleichterungen für Familien – in diesen Bereichen soll massiv gespart werden.

«Die Leute haben nicht hingeschaut»
Triste Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit gibt es in ganz England, vor allem für die schwarzen Jugendlichen sind die Perspektiven trostlos. Viele Jugendliche fühlen sich diskriminiert und im Stich gelassen, ihr Frust führt zu Hass, Gewalt und Kriminalität. Nicht zuletzt haben Schwarze das Gefühl, dass sie von der Polizei schikaniert würden.

Für manche Beobachter waren die jüngsten Ausschreitungen nur eine Frage der Zeit. Stafford Scott, Berater für Fragen der Gleichberechtigung und des Zusammenlebens, schreibt in einem Gastkommentar im «Guardian», dass klare Anzeichen für grosse Probleme der Jugend ignoriert worden seien, weil diese scheinbar «schwarze» Probleme seien. «Wenn diese Krawalle eine Überraschung sind, haben die Leute nicht hingeschaut.»


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