Krisenproteste und Besetzungen in Athen

Erschienen in: Megafon, Sonderausgabe "Recht auf Stadt", Septmeber 2012.


Daniel Mullis - Gegen die Krise in Griechenland etabliert sich eine vielfältige Proteststruktur. Gerade Besetzungen sind dabei ein zentrales Mittel. So werden Orte des Zusammenkommen und der basisdemokratischen Organisation geschaffen. Dabei werden Räume umgestaltet und umgedeutete – kurz neue Räume produziert, das „Recht auf die Stadt“ erkämpft.

Die Krise in Griechenland
Seit über drei Jahren wütet in Griechenland eine der härtesten Krisen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Sämtliche Versuche einen Ausweg zu finden sind bis anhin kläglich gescheitert. EU und IWF reagieren darauf mit dem widerholen der immer selben Lösungsansätzen, mit denen auch in den 1980er und 90er Jahren schon in diversen Staaten interveniert wurde: Budgetdisziplin, Sparmaßnahmen und Privatisierungen.
Diese Politik, die in Griechenland von sämtlichen großen Parteien getragen wird, hat sozialpolitisch dramatische Folgen und führt unmittelbar zur Proletarisierung breiter Teile der Mittelschicht und zu einem extremen Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, die 2012 auf über 24%; die Jugendarbeitslosigkeit gar auf über 50% stiegen. Daneben wurden die Mindestlöhne gekürzt, das Rentenalter angehoben und die kollektiven Arbeitsverträge aufgehoben. Heute leben über 20% der Griech_innen in Armut und 3 Millionen der 10 Millionen Bürger_innen drohen in die Armut abzurutschen. Weiter ist eine drastische Zunahme von Obdachlosigkeit zu verzeichnen, was nicht zuletzt auf den Verlust der Eigentumswohnung zurückzuführen ist, da Hypotheken nicht mehr bedient werden konnten. Gleichzeitig mangelt es an den grundlegendsten sozialen Sicherheitsnetzen, die medizinische Versorgung kollabiert, Obdachlosen- oder Armenhilfe ist praktisch inexistent und die Qualität der Schulbildung nimmt drastisch ab.

Krise der Stadt?
Doch was hat die Krise mit der Stadtentwicklung von Athen zu tun? Sehr viel! So hat gerade letzten Monat der griechische Premierminister Antonis Samaras die „Rückeroberung der Städte“ und insbesondere der Hauptstadt Athens angekündigt. Aus heruntergekommene von Migrant_innen und der sozialen Unterschicht bewohnten Viertel, sollen innenstädtische Flanierzonen entstehen. Athen solle wieder eine rechtsstaatliche Metropole mit Lebensqualität werden, es gehe schließlich um das „nationale Überleben“. Innenstädtische Aufwertung, wird also als ein Mittel gesehen, um der breiten ökonomischen Krise entgegenzuwirken und gleichzeitig den über „Ausländer raus“-Parolen massiv erstarkten rechtsextremen Parteien den Wind aus den Segeln zu nehmen, da bewiesen wird, dass die etablierte Politik etwas gegen die illegale Einwanderung unternimmt.
Diese Entwicklung ist aber nicht neu und seit den frühen 90er Jahren ist eine verstärkte Politik der innenstädtischen Aufwertung und dem Anziehen von investitionsintensiven Großbauprojekten in Athen zu beobachten. Diese Entwicklung ist eng verbunden mit dem Zuschlag für die Olympischen Spiele, die 2004 in Athen ausgetragen wurden. Die Phase zwischen 1997 und 2004 war somit eine zentrale für den Fortlauf der Stadtentwicklung. So wurde der Arbeitsmarkt flexibilisiert, das Kreditsystem ausgebaut, der Zugang für private Investor_innen erleichtert, der Bodenmarkt revitalisiert, die Sicherheitsapparatur ausgebaut und öffentliche Infrastruktur sowie Betriebe privatisiert. In diesem Kontext wurde die Re-urbanisierung des Zentrums und Gentrifizierung vieler Nachbarschaften aktiv gefördert. Alles in allem kann von einem Wiederentdecken des Zentrums gesprochen werden, welches damit zu einem der Hauptaktions- und Konfliktgebiete avancierte.

Protest und Widerstand!
Die Aufwertungskampagnen waren von Anfang an von Protest begleitet. Mit dem Ausbruch der Revolte der Jugend im Dezember 2008, die sich zum einen direkt gegen die Erschießung des 16-jährigen Alexis durch einen Polizisten in Athen richtete, zum anderen aber ein zutiefst sozialer Aufstand gegen die zunehmende soziale Polarisierung und Prekarisierung war, erhielten auch stadtpolitische Proteste erheblichen Zulauf. Die Krise der Gesellschaft wurde in Zusammenhang mit der Krise der Stadt gebracht und so entstanden unzählige Nachbarschaftsorganisationen, die sich in besetzten Zentren auf einer basisdemokratischen Grundlage zu organisieren begannen.
Während 2008 diese Organisationsstrukturen eher noch den Charakter von offenen Diskussionsforen hatten, wandelten sie sich im Zuge der 2010 vertiefenden Schuldenkrise, zu nachbarschaftlichen Selbsthilfeinitiativen, wo neben politischer Organisation auch Essen, medizinische Versorgung und Bildungsmöglichkeiten angeboten werden. Im Zuge der Krisenproteste, dessen tragenden Schlagworte „Widerstand“, „Selbstorganisation“, „Direkte Demokratie“ und „Wir bezahlen nicht für eure Krise“ sind, hat somit gerade die Praxis der Besetzungen nach 2008 einen neuen Höhepunkt erreicht. Ausgangspunkt der Ausbreitung der Stadtteilversammlungen in besetzten Zentren im Großraum Athens war nicht zuletzt die zentrale Besetzung des Syntagma-Platzes, vor dem griechischen Parlament, vom 25. Mai bis zum 30. Juli 2011. Die Proteste knüpften mehr oder weniger direkt an die Bewegungen in Kairo, Madrid und New York an. Tausende Menschen kamen über zwei Monate hinweg auf einer alltäglichen Basis auf dem Platz zusammen und diskutierten das weitere Vorgehen der Proteste und über längerfristige Perspektiven.


Besetzter Syntagma-Platz

Recht auf die Stadt, ein Fazit
Die Besetzungen waren zentral für das Gelingen der sich massive ausweitenden Proteste und wurden alsbald nicht nur im Kontext der Krisenproteste gesehen sondern explizit mit dem Begriff des „Rechtes auf dies Stadt“, dem Recht auf Aneignung und dem Recht eigene Räume zu produzieren in Verbindung gebracht. Die besetzen Ort sind so zentral weil Räumlichkeiten und organisatorische Strukturen geschaffen wurden und werden, die niederschwellig erreichbar sind und an denen unmittelbar partizipiert werden kann. Aber auch symbolisch nehmen die Besetzungen eine wichtige Rolle ein und verschieben das Wahrnehmen der Stadt. So hatte etwa das Verweilen der Protestierenden auf dem, Syntagma-Platz vor dem Parlamentsgebäude große Bedeutung, da so das Parlament unmittelbar delegitimiert wurde. Pascalis, eine an den Protesten beteiligte Person streicht dabei hervor, dass im Zentrum zu sein ganz real – politisch wie ökonomisch – wichtig sei. So habe die Inbesitznahme auch die Form eines Streikes der Stadt, es werde sehr aktiv in die sozialen Abläufe der Stadt interveniert. „Die Stadt als produktiver Ort wird lahm gelegt“. So schließt Pascalis mit den Worten, dass er davon ausgehe, dass die Präsenz und die Ereignisse im Öffentlichen Raum in den letzten Jahren stark zu dem gewachsenen politischen Bewusstsein der Gesellschaft beigetragen haben.
Für viele Menschen war der Syntagma-Platz eine sehr praktische Erfahrung der Politisierung. Es wurde an Alternativen gearbeitet und direkter Solidarität geübt; der neoliberale Konsens geriet ins Bröckeln. In vielen Stadtteilen entstanden nach der Auflösung der zentralen Besetzung öffentliche und basisdemokratische Versammlungen, was in wesentlicher Weise die kollektive Identität der an den Prozessen Beteiligten verschoben hat. Die Proteste im städtischen Raum haben also neue Räume geschaffen, die über eine veränderte politische Praxis und eine Umdeutung von Raum, wesentlich dazu beigetragen haben, die Proteste voranzutreiben und zu vertiefen. Die räumliche Praxis war somit ein zentraler Aspekt für den Erflog des Protestes. Und genau dies ist mit „Recht auf die Stadt“ gemeint, Räume schaffen, die Welt umdeuten und politisch verändern – wider den gesellschaftlichen Konsens der kapitalistischen Unterordnung und Ausbeutung.

link_ikon „Viele Menschen haben aufgehört in den Kategorien des Systems zu denken“ - Griechenland: Ein Interview


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