Multiplizierte Grenzen

Ergänzte und überarbeitete Version des Textes
Multiplizierte Grenzen, In: Megafon, November 2010.


Die gesellschaftlichen Prozesse, die sich in Staatlichkeit kumulieren schaffen ständig Grenzen, produziert Aussen und sorgen dafür, dass wir uns als Wir empfinden. Ein Wir, das ideologisch bewusst und zu einem Zweck konstruiert wurde – eine kleine Geschichte der Multiplikation von Grenzen.

Daniel Mullis - Noch im 16. Jh. war Europa mehr oder weniger durch nicht lineare Grenzen und lose Territorien geprägt. BewohnerInnen einer Region wurden durch Unterwerfung unter den Herrscher – oder in manch wenigen Fällen der Herrscherin – zu einem Volk. Doch mit dem Westfälischen Frieden von 1648, in dessen Zuge der Dreissigjährige Krieg beendet wurde, in dem sich im Wesentlichen die Konflikte zwischen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union und auch die Gegensätze zwischen Habsburger und Franzosen auf europäischer Ebene entladen hatten, begann ein grundlegender Wandel hin zum Territorialstaat. Dies weil im Friedensschluss von 1648 zum ersten Mal Grenzen auch linear gezogen wurden, Territorien der Königreiche also festgeschrieben wurden. Somit war das Volk nicht mehr nur durch die Unterwerfung, sondern auch stärker räumlich definiert. Diese Entwicklung zu einer linearen Grenze, der klaren Trennung zwischen Innen und Aussen wurde durch die Bürgerliche Revolution und die Entstehung des Nationalstaates noch um ein vielfaches verstärkt.



Die Materialisierung von Staatsgrenzen wurde aber seit dem Beginn der europäischen Moderne – oftmals mit der europäischen Entdeckung Amerikas (1492) verbunden, dem Zeitpunkt also, als Europa sein Draussen entdeckte – auch von einer Debatte über Organisationsform der Menschen unter der Prämisse der Gleichheit begleitet, diese Debatte war es denn auch die schliesslich die Bürgerliche Revolution auf philosophischer Ebene begleitete und das theoretische Fundament für die die neue Staatlichkeit bot. Die in dieser Debatte – der Aufklärung – entstandene Konzeption des Bürgers als freies Individuum, welches als Teil des Souveräns das Schicksal des Staates mitentscheidet, ist bis heute von grosser Relevanz geblieben.

Natürliche Ordnung
Thomas Hobbes, einer der zentralen Denker der Aufklärung, hielt (1651) fest, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien und sich eine Hierarchisierung in unten und oben nicht aus einem Naturzustand ableiten lasse. Wegen des ständigen Wettbewerbs und Konkurrenzkampfs unter den Gleichen drohe aber ein „Krieg aller gegen alle“. Die Lösung zur Unterbindung dieses Kriegs sieht Hobbes in der Selbstunterwerfung unter die Gesetzgebung eines Souveräns. John Locke definiert (1689) Freiheit, Gleichheit und die Unverletzlichkeit von Person und Eigentum als natürlich gegebene Rechtsgüter. Aus dem Recht, Verstösse gegen diese Rechte zu bestrafen, entsteht bei Locke die Gemeinschaft als Garant der Naturrechte und dient der Verhinderung vor übermässiger Bestrafung. Damit sind die unveräusserlichen Rechte bei Locke durch Rechte anderer begrenzt. Gesamthaft gesehen negiert Locke durch die Einführung von Naturrechten und des Bestrafungsrechtes die radikale Freiheit, wie sie von Hobbes vertreten wurde. Diese beiden Positionen eröffnen das Spannungsfeld von Einschluss- und Ausschlussmechanismen, um welche sich alsbald das Konzept des staatlichen Bürgers und der Volkssouveränität drehen sollte.

Eine weitere zentrale Debatte drehte sich um die Frage der Souveränität. So verstand etwa Jean Bodin (1576) Souveränität als die Potenz des Monarchen „den Untertanen […] ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben.“ Souverän konnte in dieser Konzeption somit nur eine einzelne Person sein. Eine Person also auf der sich die gesamte politische Macht vereinte. Mit Jean-Jacques Rousseau (1762), wird ein radikaler Wandel dieses Ansatzes vollzogen, zumindest hinsichtlich der Frage wer Souverän sein könne. Nach Rousseau sollte nämlich die Souveränität auf Basis eines Gesellschaftsvertrages, unter den sich alle freiwillig unterordnen, an das Volk übergehen. Auf dieser Basis stehen die amerikanische (1787) und die französische (1791) Verfassung, die aus den jeweiligen Revolutionen hervorgingen und die Republik als Basis der Demokratie ausriefen.

Die Konstruktion des Wir
Diese Verschiebung der Macht von einem einzelnen Monarchen hin zum Volk bringt eine massive Veränderung in der Notwendigkeit zur Konstruktion von Einheit und zur Definition von Grenzen – also das abschliessen von Raum – mit sich. Dies weil das Volk zum einen die politische Macht darstellt und zum anderen der Raum in dem das nunmehr naturalisierte und fixierte Volk lebt den Herrschaftsraum des Volkssouveräns definiert. Diese Konstruktion betrifft die materiellen Aussengrenzen sowie die sozialen und kulturellen Grenzen im Innern. Das Volk kann daher nicht als Vorläufer einer Nation und Garant des Staates verstanden werden, sondern muss als Ergebnis eines konstruktiven Prozesses interpretiert werden, welcher aus spezifischen Gründen vollzogen wurde. Volk und Nation sind demnach etwas durch und durch vorgestelltes, das als solches nicht existiert und erst über den Umkehrschluss durch die Schaffung von Grenzen – die paradoxerweise durch eben dieses, das angeblich vorhandene, natürliche und einheitliche Volk definiert wurden – geschaffen wird.

In der Konstruktion dieser Einheit spielte die oben schon angesprochene Entdeckung des europäischen Aussen eine wichtige Rolle. Verschiedene postkoloniale TheoretikerInnen wie etwa Edward Said (1978) weisen darauf hin, wie wichtig das Gegenbild, die Konstruktion des Wir-Sie für die Definition des europäischen Selbstbildes war und somit wesentlich zur Herausbildung der Selbsterkennung beigetragen habe. So wird Europa laut Said in der analysieren Literatur, im Gegensatz zum Orient als maskulin, rational und fortschrittlich gedacht, wogegen der Orient als feminin, irrational und primitiv dargestellt werde. Insofern betonen Étienne Balibar (1990), dass die Begriffe Nation, Volk und Rasse im gleichen Dunstkreis schwebten und der koloniale Rassismus ein zentraler Aspekt in der Konstruktion des neuen nationalen Wir war.

Diese Grenzziehungen – nach innen und gegen aussen – manifestierten sich deutlich in den jungen Republiken des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Wahlrecht war oftmals an ein Einkommensniveau gebunden, Frauen waren nicht wahlberechtigt und Fremde wurden zunehmend als volksfremd betrachtet und ausgeschlossen. Diese ausschliessenden Praxen verweisen in aller Deutlichkeit auf die Existenz der Grenzen im Inneren und deuten darauf hin, dass eher eine ausschliessende Konzeption des Bürgers im Begriff war, sich durchzusetzten. Der Ausschluss der Anderen diente aber auch einer Verfestigung des Wir für jene, die teilhaben konnten. So war das Konzept des Bürgers, als Teil eines gestaltenden Kollektivs von Gleichen, auch ein normalisierendes Konstrukt, im Sinne, dass es das Wir immer stärker auch von innen festigte. Durch das Ausüben von gemeinsamen Rechten, an welchen die Anderen nicht teilhaben durften, konnte sich so auch das Verständnis von Wir überhaupt erst durchsetzten. Diese immer neuen Grenzziehungen, diese andauernden Inklusion – und Exklusionsmechanismen, sind es denn schliesslich auch, welche das Selbstverständnis des Wir in einem erheblichen Masse fördern.

Zeitgleich setzten die jungen Nationalstaaten auch gegen aussen auf eine verstärkte Abschottung. So sollte nicht erstaunen, dass es im Zuge des französischen Revolutionsprozesses zur Herausbildung einer ersten bürokratischen AusländerInnenkontrolle kam. Nach dem Wiener Kongress 1815 und der damit erfolgten Restauration wurden in ganz Europa die Grenzkontrollen nun erneut unter monarchischer Herrschaft verschärft und eine frühe Form der Aufenthaltsbewilligung eingeführt. Noch vor dem 1. Weltkrieg wurde der Reisepass zum zentralen Dokument, mit welchem eindeutig Zugehörigkeit belegt werden konnte.

Nach den beiden Weltkriegen war in Westeuropa – zum Teil unter Zwang – der Wandel hin zu fixen demokratischen Nationalstaaten vollzogen worden. In diesem Zusammenhang betont Tony Judt (2005), dass das heutige Europa und seine stabilen Staaten nicht zuletzt aus den ethnischen Säuberungen und Vertreibungen während und nach den Weltkriegen hervorging und der erneute Übergang zur Demokratie somit auch auf einer Entledigung des Anderen auf eigenem Boden beruhen würde. Insofern sei unser „friedliches“ Europa, die geeinte Europäische Union erst durch die Katastrophe des 20 Jh. möglich geworden.


Europa nach dem 1. Weltkrieg (Vergrösseren anklicken)


Europa nach dem 2. Weltkrieg

Und heute?
Heute sind die Grenzziehungen im Innern wie gegen aussen diffuser und vielfältiger geworden. Staaten haben sich in transnationale Verträge eingebunden, die Globalisierung hat eine ökonomische Liberalisierung und Verflechtung gebracht, und die Grenzen sind für eine privilegierte Schicht durchlässiger geworden. Die einfachen Strukturen und vor allem die Möglichkeit zur Konstruktion von binären Strukturen von Wir-Sie sind somit zumindest teilweise wegerodiert worden. So betont etwa Homi Bhabha, dass Stereotypen keinesfalls zu jeder Zeit einen sicheren Referenzpunkt darstellen würden und solche Strukturen wandelbar und vielfältig seien. Was aber nicht heissen solle, dass binäre Strukturen keine Wirkung mehr entfalten würden. Denn noch heute orientiert sich die Konzeption des Bürgers an einer grundlegend ausschliessenden Logik, in der Rassismen und andere Mechanismen zur Konstruktion von Anderssein weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Dazu kommt, dass gerade politisch binäre Strukturen einfach zu bedienen sind und deshalb ein willkommenes Feld für populistische Politiken in sich bergen.

Beispielhaft ist etwa der Wandel der Konzeption von Rassismus an und für sich. Balibar beschreibt so etwa den Rassismus, wie er heute vorherrsche, als Rassismus ohne Rasse, in dem Vorurteile nicht mehr durch biologische, sondern durch kulturalistische Argumentationsstrukturen legitimiert werden, sich die Legitimation für Vorurteile und Ausschlussmechanismen also verschoben hat. Aber auch in diesem Konzept des neuen Rassismus bleibt eine räumliche Einschreibung bestehen. So finden sich etwa noch heute viele Modelle, welche Kultur an Raum binden – mensch denke nur an die These des Kampfes der Kulturen von Samuel Huntington oder die Erklärungsmuster für die Probleme welche im Zusammenhang mit den französischen Banlieues herbeigezogen werden –, indem Raum die Kultur definiert und als Erklärungsmuster für allerlei vorurteilbehaftete Stereotypisierungen beigezogen werden.


Einteilung der Welt in Kulturkreise nach Huntington (Vergrösseren anklicken)

Heute ist aber auch die nationale Souveränität durch die globalisierenden Prozesse selbst in Frage gestellt. Die in den Gremien der Internationalen Organisationen wie etwa WTO, UNO, aber auch EU getroffenen Entscheidungen tangieren die nationale Souveränität auf unterschiedliche Weise. Dies führt bisweilen zu einer Verminderung der Wichtigkeit von nationalen Grenzen – aber keinesfalls zu deren Verschwinden. Es bedeutet aber, dass unterschiedliche politische Entscheide auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und als solches in unterschiedlicher Weise die Grenzen betreffen. So ist etwa zu beobachten, dass, während die Grenzen im Innern des Schengenraums abgebaut wurden, die Schengen-Aussengrenzen massiv ausgebaut wurden. Insofern sind Grenzen vielfältiger, flexibler und für die Unerwünschten noch abweisender geworden, während gleichzeitig ein weitgehend offener Binnenraum entstanden ist.

Fazit

Staatsgrenzen sind ein Produkt eines konstruktiven Prozesses von Volk und Einheit, eine Konstruktion, die vollzogen wurde, um Macht über einen Raum zu legitimieren. Im Verlauf dieses Prozesses sind vielerlei Multiplikationen der Potenz von Grenze im Innern wie im Äussern festzustellen. Zur materiellen Verfestigung der Grenze als Trennlinie kam durch die Grenzen im Innern eine weitere Ebene hinzu. Eine Ebene, die auf Ausschliessmechanismen beruht und enorm diffus ist.

Die Entstehung der republikanischen Demokratie ist insofern untrennbar mit der andauernden Abgrenzung, Definition und Konstruktion von Aussen und dem Anderen verbunden. Mit dem Konzept des Staatsbürgers wurde von allem Anfang an ein ausschliessendes und normalisierendes Konstrukt als Basis der politischen Macht geschaffen. Staatlichkeit und das moderne Konzept des Bürgers wirken demnach zwangsläufig grenzziehend und werden immer ausschliessend wirken

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Der Text basiert im Wesentlichen auf der Vorlesung:
Le frontoiere della cittadinanza von Sandro Mezzadra, Università di Bologna


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