Die Hypothek stirbt in Spanien als Letztes

Martin Dahms, Tages Anzeiger, 29.06.2010

Jahrelang wuchs die spanische Wirtschaft, und das Land verwandelte sich in eine Grossbaustelle. Doch dann kam der Absturz. Jetzt suchen 4,6 Millionen Spanier eine Arbeit. Wie lebt ein Land mit 20 Prozent Arbeitslosen?

Den Besucher empfangen in Madrid und Barcelona zwei Flughäfen mit nagelneuen Terminals, von einer zur anderen Stadt reist man mit Tempo 300 im Hochgeschwindigkeitszug, und wo immer man hinkommt, findet man verstopfte Strassen, überlaufene Restaurants und volle Geschäfte. 18,4 Millionen Menschen in Spanien haben eine geregelte Beschäftigung. Die Krise kennen sie nur aus der Zeitung. Das ist die eine Seite.

Die andere, das sind die 4,6 Millionen Arbeitslosen: 20 Prozent der aktiven Bevölkerung, mehr als doppelt so viele wie vor zwei Jahren. Doch falls die Metapher vom «Heer der Arbeitslosen» jemals ihre Berechtigung gehabt haben sollte, hier und heute in Spanien führte sie völlig in die Irre. Die Arbeitslosen sind nicht organisiert, sie haben keine Leitung, und der Kampfgeist ist nur dem eigenen Überleben gewidmet. Sie sind beinahe unsichtbar. Dabei sitzen sie vielleicht in aller Ruhe neben einem an der Bar. Ob unter seinen Freunden jemand arbeitslos sei? «Da muss ich nicht lange suchen», sagt der 32-jährige Adrián Chinchilla. «Ich zum Beispiel.»

Bis vor einem Jahr arbeitete er in einer Werbeagentur, das Geschäft brach ein, die Chefs wechselten, sie warfen ihn raus. Jetzt lebt er von 960 Euro Arbeitslosengeld, 700 Euro gehen allein für die Miete einer kleinen Wohnung in der Madrider Innenstadt drauf. Er zehrt noch von den 11'000 Euro Abfindung seines Arbeitgebers und kleinen Aufträgen, die er sich bar auszahlen lässt. «Mein Defizit ist höher als das Griechenlands», sagt Chinchilla. Er sucht Arbeit im Ausland. Und trinkt seinen Kaffee in der Bar. «Wir Spanier sind gesellig. Bevor wir beim Ausgehen sparen, fallen uns noch ein paar andere Dinge ein, auf die wir verzichten können.»

Man trinkt sein Bier zu Hause
Viele müssen schon schärfer rechnen. Segundo Pérez ist 43 Jahre alt und einer von 760'000 arbeitslos gemeldeten Bauarbeitern. In zwölf Jahren hatte er sich vom Hilfsarbeiter zum Polier hochgeschuftet, bis er im letzten Sommer seinen Job verlor – die Firma schloss, nachdem sie für die letzten hundert Wohnungen, die sie auf eigene Rechnung gebaut hatte, keine Käufer mehr fand. Pérez lebt mit seiner Frau Marisa und dem gemeinsamen 12-jährigen Sohn in einer Eigentumswohnung im Madrider Vorort Carabanchel. Ihr Glück war ein 46'000-Euro-Lottogewinn, mit dem sie vor vier Jahren einen Grossteil ihrer Hypothek abbezahlten. So kommen sie über die Runden. Pérez sucht Arbeit: Er klappert Baustellen ab und erhält doch nur Absagen. Seine Frau führt Listen, in denen sie die Preise der Supermarktketten vergleicht. «Jetzt gehst du eben nicht mehr in die Kneipe, sondern trinkst dein Bier zu Hause», sagt Marisa. Sie rechnet mit schwierigen Jahren. «Vor 2014 wird das hier nicht wieder aufwärtsgehen.»

14 Jahre lang ging es nach oben
14 Jahre lang war es in Spanien nur aufwärtsgegangen. Von 1994 bis 2007 schuf Spanien Arbeitsplätze wie kein anderes Land. Die Zahl der Beschäftigten stieg von 12 Millionen auf über 20 Millionen. Das spanische Pro-Kopf-Einkommen überflügelte das italienische. Spanische Unternehmen wuchsen zu Weltkonzernen heran: Banco Santander, Telefónica, Iberdrola, Inditex (das Mutterhaus der Modekette Zara). Spanien gewöhnte sich an den Gedanken, auf die EU-Solidarität und die Überweisungen aus Brüssel verzichten zu können. Es gewöhnte sich an den Gedanken, zu den Reichen dieser Welt zu gehören. Dann kam der Einbruch.

Aus der Rückschau ist alles ganz einfach zu erklären. Man konnte die Krise kommen sehen. Aber wer wollte das schon? Noch im September 2007 schrieb ein Ökonom der Deutschen Bank, dass der spanische Aufschwung ein nachhaltiger sei. Kurz darauf platzte die Immobilienblase. Das Land war in seinen Boomjahren zur Grossbaustelle geworden, der Baukran zu Spaniens Wahrzeichen. Ohne jede ästhetischen oder ökologischen Bedenken überzogen Immobilienentwickler, im Verbund mit kurzsichtigen oder korrupten Lokalpolitikern, alle halbwegs attraktiven Winkel des Landes mit immer gleichen Wohnblocks. Niemand stoppte den Wahnsinn, denn alle schienen davon zu profitieren. Niedrige Zinsen und steigende Preise lockten kleine und grosse Spekulanten an, womit die Preise weiter stiegen, womit weitere Spekulanten angelockt wurden. 2007 entstanden an die 800'000 Neubauwohnungen, für höchstens die Hälfte gab es eine reale Nachfrage. Die internationale Finanzkrise war der äussere Anstoss, der das Kartenhaus zusammenfallen liess.

Pfusch am Bau trübte die Freude
Verónica Chavero und Juan Luis Álvarez sind keine Spekulanten. Das Haus, das sie sich vor vier Jahren auf dem Höhepunkt des Booms für 200'000 Euro nahe der Madrider Vorstadt Parla kauften, wollten sie auch bewohnen. Sie zahlten damals noch die Hypothek für eine Wohnung ab, in der sie mit ihren zwei kleinen Kindern lebten. Die Bank rechnete ihnen vor, dass sie nach dem Verkauf der Wohnung problemlos die Raten für das Haus bezahlten könnten. Aber alles kam anders. 2007 zogen sie ins neue Haus, doch Pfusch am Bau trübte ihre Freude vom ersten Tag an. Nach jedem Regenguss war der Patio, auf den sie sich so für ihre Kinder gefreut hatten, überflutet, weil der Abflussrost nur zur Zierde eingebaut war – es fehlte das Rohr zur Kanalisation. Schlimmer: Niemand wollte ihre alte Wohnung in Parla kaufen. Denn inzwischen war die Spekulationsblase geplatzt. Jetzt müssen sie zwei Hypotheken bedienen, jeden Monat 1800 Euro. Was sie vielleicht noch geschafft hätten, wenn Álvarez nicht seine Stelle bei einem Autozulieferer verloren hätte und Chavero weiter als Aushilfskassierin arbeiten könnte – doch der Supermarkt hat keinen Bedarf mehr. Die Familie ist wieder in die alte Wohnung nach Parla gezogen, ihr Haus steht für 150'000 Euro zum Verkauf. Sie verhandeln mit ihrer Bank, aber rechnen jeden Tag mit dem Räumungsbefehl. «Wenn es so weitergeht, werden wir die Schulden unseren Kindern hinterlassen», sagt Chavero.

350'000 Familien sind nach Zahlen des Verbandes «Afectados por la Hipoteca» (Hypothekenbetroffene) in einer ähnlichen Situation wie die beiden. «Wo sind diese Leute? Warum sind sie nicht auf der Strasse?», fragt sich Lucía Delgado, Sprecherin des Verbandes. Ihre Antwort: «Die Betroffenen nehmen die Schuld auf sich selbst. Sie protestieren nicht.» Und tun stattdessen alles, um ihre Schulden zu begleichen. «Es ist ein Allgemeinplatz, aber es ist wahr: Die Hypothek ist das Letzte, was die Menschen aufhören zu bezahlen. Selbst die Grossmutter mit ihrer kleinen Rente wird noch um Hilfe gebeten.» Zahlen der spanischen Zentralbank bestätigen das Bild: Von allen Krediten, die spanische Banken an private Wohnungskäufer vergeben haben, wackeln 2,9 Prozent. Von den Krediten an Immobilienfirmen wackeln 10 Prozent. Spaniens Familien beissen auf die Zähne und halten durch – so weit.

Wie schaffen sie das? Der Politologe Fernando Vallespín von der Madrider Universidad Autónoma spricht von den «vier Zufluchtsecken» für Krisenzeiten wie dieser: von den Hilfen des Sozialstaats, Gelegenheitsjobs, Schwarzarbeit und dem familiären Netz. Wobei auf den Sozialstaat nur bedingt Verlass ist: Spanien gibt rund 21 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Sozialleistungen aus, sieben Punkte unter EU-Durchschnitt. Carlos Morejón de Girón, der seinen letzten Job vor zwei Jahren verlor, bekommt 426 Euro im Monat. Der 46-Jährige lebt bei seiner Mutter in Madrid, in seinem alten Sechs-Quadratmeter-Kinderzimmer. Die 71-jährige Mutter bessert ihre Witwenrente mit Schneiderarbeiten auf, für die sie keine Rechnungen ausstellt. Niemand stört sich daran. Zu ihren Kunden zählen etliche Beschäftigte des nahen Justizministeriums.

«Spanier arbeiten nicht gern»
Ohne die Hilfe der Familie ginge für viele gar nichts, erst recht nicht für die Jugendlichen. 835'000 junge Leute zwischen 16 und 25 Jahren suchen Arbeit: Das sind 41 Prozent Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe. Der 22-jährige Jorge Marín aus Burgos hat seine Informatikausbildung im Juli vergangenen Jahres abgeschlossen, nur einer von 22 aus seinem Kurs fand eine Stelle. Jorge nicht. Er lebt gemeinsam mit seiner Mutter, seinem kleinen Bruder und seiner Tante bei der Grossmutter. «Das Zusammenleben funktioniert genial», versichert er. Auf eigenen Füssen zu stehen, davon träumt er nicht einmal. Aber er ist nicht tatenlos. Er hat sich mit einem Ausbildungskollegen zusammengetan, Visitenkarten und Handzettel gedruckt und bietet seine Dienste als Webdesigner an. Vor kurzem hat er den Auftrag bekommen, den Internetauftritt einer kleinen Firma zu gestalten. Jorge ist stolz: «Wir haben 1300 Euro verdient.»

Eine der Ursachen der jetzigen Krise, glaubt der Politologe Vallespín, sei ein unter Spaniern weitverbreitetes Phänomen: «Sie wollen einen Arbeitsplatz – aber sie arbeiten nicht gern.» Das klingt nach Klischee. Der erste Teil ist auf alle Fälle wahr. In Spanien suchen 4,6 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz. 1,1?Millionen von ihnen sind Ausländer: 30 Prozent Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe. Der 51-jährige Peruaner Dani Cabrera landete vor acht Jahren in Alcorcón, einer Vorstadt Madrids. Er fand Arbeit in der Industriereinigung. Vor zwei Jahren wurde er entlassen. Seine Frau auch. Zwei seiner drei erwachsenen Kinder: arbeitslos. «Ich suche überall», sagt Cabrera. «Ich bin bei 200 Unternehmen vorbeigegangen. Ich bin durch ganz Madrid gelaufen. Ich habe alles versucht, aber nichts. Ich habe nichts gefunden.»

Versorgung für 138 spanische und 397 Immigrantenfamilien
Einmal die Woche schaut Cabrera in einem kleinen Lokal in der Calle la Nacho im Zentrum Alcorcóns vorbei. Dort hat Pedro Oma, ein 66-jähriger Äquatorialguineer mit spanischem Pass und Offizier im Ruhestand, vor sieben Jahren seine eigene kleine Hilfsorganisation gegründet: Er verteilt Lebensmittel an Bedürftige. «Ich hatte 3 Millionen Peseten gespart, das sind 18'000 Euro, und wusste nicht, was ich damit machen sollte.» Die Waren erhält er gratis von der Lebensmittelbank der Madrider Regionalregierung, er kümmert sich darum, dass sie in Alcorcón unter die Leute kommen: frisches Gemüse, Brot, Milch, manchmal Süssigkeiten. «Das Nötigste, um unser Leben fristen zu können», sagt Cabrera. 138 spanische und 397 Immigrantenfamilien versorgen sich hier wöchentlich.

Die letzte Möglichkeit ist die Rückkehr in die Heimat. Amadou Gaye aus Senegal kam vor vier Jahren mit dem Boot auf Teneriffa an. Es verschlug ihn nach Madrid. Er lebte auf der Strasse. Schliesslich begann er, vor Kinos Papiertaschentücher zu verkaufen. Das reichte, um monatlich 350 Euro für ein Bett zu bezahlen. Aber er hat noch immer keine Papiere, von einer Arbeit ganz zu schweigen. Er hat genug. «Ich gehe zurück. In Senegal war ich Busfahrer. Da war ich nie länger als zwei Monate ohne Arbeit. Man verdient nicht viel. Aber Arbeit gibts. In Spanien ist es gut, wenn du Arbeit hast. Wenn du keine Arbeit hast, ist es nicht gut.»


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