Wir sind alle Rüdisülis

Oder warum die Zersiedelung eine Erfolgsstory ist – ökonomisch, sozial und als Naturgenuss: eine Rede von Architekturkritiker Benedikt Loderer.

Rede von Benedikt Loderer, Tages- Anzeiger, 8.4.2010

«Ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Ich halte die ganze Empörung über die Zersiedelung für ein Lippenbekenntnis. Einfache Frage: Wie viele Quadratmeter Wohnraum beanspruchen Sie pro Kopf? Ich 90, und ich liege damit weit über dem Durchschnitt von rund 50. Dass dies in der Bieler Altstadt geschieht, ist nur ein mildernder Umstand, aber kein Freispruch. Vor einer Generation waren es noch 30. Diese Differenz entspricht ziemlich genau der Zersiedelung.

Worauf will ich hinaus? Auf den fundamentalen Unterschied zwischen Produktion und Konsum. Angewendet und dargestellt an jenem Stück Erdoberfläche, das die Schweizerische Eidgenossenschaft verkörpert. Als noch 85 Prozent der Schweizer von der Landwirtschaft lebten, das übrigens kärglich und von Hunger bedroht, da war es klar: Der Bauer brauchte Land, keine Landschaft. Das Land war neben seiner Arbeitskraft das entscheidende Produktionsmittel. Darum hat er zum Land Sorge getragen, hat zum Beispiel seine Siedlung auf das Minimum reduziert, weil ihn das Land reute, das er nicht bebauen konnte. Ob Streusiedlung oder Haufendorf, nie hat er das Land vergeudet. Dafür war es zu wertvoll.

Opium der Normalos
Wer heute auf dem Lande lebt, braucht wenig Land, aber will viel Landschaft. Die Landschaft ist zum Genussmittel geworden, zur Droge des Mittelstands, zum Opium der Normalos. Ein herrenloses Gut, wer will eines, das uns allen gehört, obwohl der Zugang dazu doch sehr undemokratisch organisiert ist. Das Stichwort Seeanstoss erklärt, was ich meine.

Das Land hingegen, die wenigen Hundert Quadratmeter fürs Hüsli, die werden konsumiert. Die Leute, die heute auf dem Land und nicht vom Land leben, sind Konsumenten, Landkonsumenten. Wie wir alle wissen, zerstört der Konsum das, was er konsumiert. Drastisch ausgedrückt: Der Kuchen wird Kacke. Ein Naturgesetz. Zwar ist der Dünger auch wertvoll, leider auf einem viel tieferen Niveau. Das Produktionsmittel wird zum Konsumgut. Dieser Übergang ist die Zersiedelung. Zusammenfassend: Zersiedelung ist Konsum.

Ich bin überzeugt, dass der Konsum das Subjekt der Geschichte ist. Nicht Gott oder der legitime Herrscher, weder der Zeitgeist noch das Volk oder das Proletariat sind die Beweger der Geschichte, nein, es ist der Konsum. Die Welt wird von der Gefrässigkeit regiert. Das meine bescheidene Einsicht in den Lauf der Welt. Und es gilt das Grundgesetz: Der Hunger kommt vom Fressen, und der Durst kommt vom Trinken.

Die Verehrung führt zur Verheerung
Ist das Land kein Produktionsmittel mehr, sondern ein Konsumgut, tritt an die Stelle der Arbeit der Genuss. Naturgenuss ist nach dem Alkoholismus die am weitesten verbreitete Volkskrankheit in der Schweiz. Vermutlich sind auch Sie vom Morbus Naturae sentimentalis befallen, von der heutigen Form der Lustseuche.

Wenn man das verstanden hat, dann ist die Zersiedelung keine moralische Frage mehr. Das glaubten nur die Naturschützer der alten Sorte. Die Unberührtheit der Natur, namentlich der Berge, die, wie wir wissen, heilig sind, ist längst durch Massenvergewaltigung aufgerieben worden. Heute muss man den Grundwiderspruch unserer Naturseligkeit anerkennen: Die Verehrung führt zur Verheerung. Jede Erstbesteigung endet mit einem Skilift.

Wer die Natur wirklich bewahren will, muss sie in Ruhe lassen, der Stubenhocker ist der beste Naturschützer. Im Umkehrschluss heisst das: Wer es mit Naturschutz ernst meint, wiederum in den Alpen als Beispiel, der stellt als Erstes die Skilifte und Bergbahnen ab. Der Tourismus ist reiner Konsumismus, das Kaufen von Naturgenuss, das Ausleben der Volksseuche. So viel zur Illustration.

Konsumfähiges Land
Wer verstanden hat, dass der Konsum das Subjekt der Geschichte ist, der hat mit dem Prozess der Zersiedelung keine Mühe. Es geht um das Einkassieren des Mehrwerts, Pardon, um die Realisierung von Chancen, genauer um die Verwirklichung des Konsums. Ein Stück Land, das nicht in einer Bauzone liegt, ist für den Konsum wertlos. Nur eingezontes Land ist wirklich konsumfähig. Alles Land gehört in die Bauzone, erst dann ist der Konsum wirklich frei.

Darum muss man unter anderem darauf hinarbeiten, dass das bäuerliche Bodenrecht zuerst durchlöchert und später abgeschafft wird, zumindest in den vielversprechenden Lagen. Der ganze Genferseebogen mit diesen putzigen Weinbergen zum Beispiel ist reine Verschwendung. Ich nenne Ihnen nur ein einziges Stichwort: Goldküste. Wer von Konsum etwas versteht, versteht.

Doch werden wir konkret und beispielhaft. Ich nehme den landläufigen Fall eines Einfamilienhauses in der Gemeinde Hintergiglen, um Ihnen die Verhältnisse zu verdeutlichen. Es war einmal ein Acker am Rand des Dorfes. Dem wackeren Eigentümer, dem rechtschaffenen Bauern Johann Rüdisüli, der damals auch sparsamer Gemeinderat war, gelang es, den Blätz Land in die Bauzone zu bringen. Dies erreicht, verkaufte Bauer Rüdisüli an den aufgeweckten Architekten Friedrich Findig. Der fand den soliden Gymnasiallehrer Ulrich Merk, der lange schon von einem ehrlichen Hüsli träumte.

Gewinn an Sozialprestige
Die Kettenreaktion, die dieses Zusammentreffen auslöste, kennen Sie. Ich beschränke mich darauf, einige Leute aufzuzählen, die daran verdienten: Bauer Rüdisüli am Land, der Notar Gotthelf Ehrsam am Grundbucheintrag, der Architekt Findig am Architektenauftrag, Baumeister Ehrlich, Sanitärunternehmer Rohrer, Maler Farbig und alle andern Bauhandwerker und Zulieferer bis hin zur Vorhangstoffweberei.

Die Gemeinde Hintergiglen kassierte die Gebühren und später die Steuern, und nicht zuletzt profitierte der Gymnasiallehrer Ulrich Merk und seine Familie, die nun doppelt so viel Wohnraum hatte, in einer jugofreien Gegend wohnte, einen Gewinn an Sozialprestige einstrich und weniger Steuern zahlte und noch von der Wertsteigerung des Grundstücks profitierte.

Merk bewohnt seither sein Sparschweinchen. Der Verwandlungsprozess von Produktions- in Konsumland befriedigte alle Beteiligten tief und brachte allen einen Profit. Zusammenfassend: Die FdP, die «Fédération des Profiteurs», hatte sich bewährt. Die Zersiedelung ist eine Erfolgsgeschichte, ökonomisch, sozial und als Naturgenuss.

So viel Zersiedelung wie Geld
Da der Konsum das Subjekt der Geschichte ist, diktiert er seine Regeln. Die erste davon lautet: Wachstum ist nötig. Darüber sind wir uns stillschweigend alle einig: Ja gewiss, Wachstum ist nötig. Denn ohne verfehlen wir das unausgesprochene Staatsziel: Wir wollen reich bleiben und reicher werden. Wer kann da noch gegen die Zersiedelung sein? Wir sind es nur aus ästhetischen Gründen und immer nur auf dem Land des Nachbarn.

Selbstverständlich war Gymnasiallehrer Merk ein Grüner, einer der ersten im Dorf, der Erste auch, der im Garten ein Biotop einrichtete. Gegen den Bau weiterer Hüsli hat er sich mit Einsprachen gewehrt. Stoppt die Zersiedelung! Vergeblich, leider, und seither fühlt sich Merk in seinem Naturgenuss empfindlich gestört.

Solange der Konsum das Subjekt der Geschichte ist, gilt die zweite Hauptregel: Es gibt so viel Zersiedelung in der Schweizerischen Eidgenossenschaft, wie Geld dafür vorhanden ist. Anders herum: Man kann nicht gleichzeitig das Wachstum fördern und die Zersiedelung hindern. Alle Merks sind gegen die Zersiedelung, solange es die des Nachbarn ist, Lippenbekenntnisse eben.

Vade retro, Satanas
Doch vielleicht ist es der Neuen Helvetischen Gesellschaft mit dem Aufbruch ernst. Sie haben zwei Wege. Entweder Sie nehmen Abschied vom Wachstum und von der Staatsmaxime «reicher werden», was gegen Treu und Glauben ist, denn hierzulande gilt die Bestandesgarantie. Oder Sie schränken den Landverbrauch mit wirklich radikalen Massnahmen ein. Die erste: Das Baugebiet wird geschlossen. Mehr als heute darf nirgends mehr überbaut werden, eingezont oder nicht. Die zweite: Die Verdichtung wird verordnet. Dort nämlich, wo noch viel Platz ist, in den Villen- und Einfamilienhauszonen.

An allen Goldküsten des Landes hat es noch Platz für mindestens doppelt so viele Leute. Die dritte: Sie führen die Kostenwahrheit ein. Am besten beginnen Sie mit dem Verkehr, dem individuellen wie dem öffentlichen. Verrechnen Sie bitte auch die Folgekosten.

Ich höre hier auf, denn längst schon haben Sie erkannt: Der will unseren Konsum einschränken. Vade retro, Satanas, und wehret den Anfängen!

Gut, ich beuge mich Ihren wohlerworbenen und hart erarbeiteten Konsumansprüchen, doch bitte ich Sie: Behaupten Sie nie wieder, Sie seien gegen die Zersiedelung. Sie ist ungefähr so glaubwürdig wie der Bauer Johann Rüdisüli.»


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