Der Traum von Europa ist ein brutales Geschäft

Von Martin Ebel, In: Der Bund, 18.2.2010

Buchtipp
Fabrizio Gatti (2010): Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuss, Kunstmann, München.

Jeder kennt die Bilder von verängstigten, vor Kälte zitternden schwarzen Menschen, die gerade von völlig überlasteten und schrottreifen Booten gerettet worden sind. Die ihr Leben riskiert haben, um Zugang zu Europas Milch- und Honigtöpfen zu erhalten. Rund 37'000 Boatpeople sind allein im Jahr 2008 an Italiens Südküste registriert worden. Die Hälfte von ihnen hat Asyl erhalten. Andere sind abgeschoben worden oder untergetaucht. Wie viele ertrunken sind im Mittelmeer, hat niemand gezählt.

12 Prozent: Diese Zahl nennt Fabrizio Gatti. 12 Prozent Ertrunkene. Eine ungeheure Zahl. Gatti macht sie sich bewusst, als er auf einem Lastwagen sitzt, der von Agadez in Niger zur Oase Dirkou fährt. Die Strecke ist Teil der alten Sklavenroute und jetzt ein Teilstück des grossen Trecks nach Norden. 182 Personen transportiert der Lastwagen, auf den sich Gatti gequetscht hat, und der Reporter rechnet: Rein statistisch werden von den 182 Passagieren 22 die Überfahrt nicht überleben. «Und wenn bei uns alle überleben, werden vielleicht 44 Menschen des nächsten umkommen. Oder 66 des übernächsten. Und dann sind da noch Kofi, Oliver und die anderen Namenlosen, die bereits in der Wüste begraben sind: die Stranded People, die das Meer nie zu Gesicht bekommen werden.»

Vor Überfahrt zurückgeschreckt
Fabrizio Gatti ist mitgefahren auf der «Route der neuen Sklaven»: von Dakar in Senegal über Mali und Niger bis an die libysche Grenze. Weiter kam er nicht, der libysche Konsul hatte schon gedroht, ihn als Spion verhaften zu lassen. Erst an der tunesischen Mittelmeerküste klinkt sich der Reporter wieder ein; vor der Überfahrt schreckt er allerdings im letzten Moment zurück – zu dubios erscheint ihm das Fahrzeug.

Die vielen jungen Männer aus Nigeria, Ghana und anderswo, die sich auf Last- und Geländewagen so weit durchgeschlagen haben, können sich solche Skrupel nicht leisten. Nach der strapaziösen, demütigenden und gefahrvollen Tour durch die Sahara wollen sie nicht im letzten Moment aufgeben. «Was treibt sie an?», fragt Gatti immer wieder. Es ist die Armut zu Hause, die Aussichtslosigkeit, trotz guter Ausbildung Arbeit zu finden, das Weinen der hungernden Kinder, das Gefühl, als Ernährer versagt zu haben. Oder ein Bürgerkrieg, der etwa James und Joseph aus Liberia vertrieben hat. Gatti lernt sie in Dirkou kennen, einem der trostlosesten Orte der Sklavenroute, er freundet sich mit ihnen an und hilft ihnen, als sie in Tripolis gestrandet sind, mit Zuspruch, Kontakten und Geld.

Gefährliche Recherche
James und Joseph sind nicht einmal Illegale, sie haben Visa und Flugtickets, sogar eine Einladung zu einer Konferenz in Slowenien. Aber das beeindruckt die libyschen Behörden keineswegs. Man lässt sie nicht abfliegen, Ticket und Visum verfallen; als die beiden protestieren, werden sie verhaftet und schwer misshandelt. Es dauert ein ganzes Jahr, bis sie nach unendlichen Schikanen Libyen verlassen können – und wieder dort landen, von wo sie aufgebrochen sind: in einem Flüchtlingslager in Ghana.

Die E-Mails, die Joseph und James dem Reporter Fabrizio Gatti schicken, sind das bedrückendste und empörendste Kapitel in seinem Buch. Sie berichten von ständigen Razzien der Polizei und Pogromen einer gegen Afrikaner aufgehetzten Bevölkerung. Andere Geschichten hört Gatti auf der Sklavenroute selbst: von Geländewagen, die in der Wüste verschwinden. Von Schleusern, die ihre menschliche Fracht irgendwo auf der Strecke abladen und mit dem Fahrgeld davonfahren. Mit eigenen Augen sieht Gatti die Polizisten und Soldaten, die aus den bettelarmen Reisenden mit Knüppeln, Kabeln und Gummischläuchen die letzten Geldscheine herausprügeln. Manchmal kann er sie mit Medikamenten «überzeugen», die Quälerei zu beenden.

Gatti selbst bewahrt sein italienischer Pass vor körperlicher Unbill. Ungefährlich ist die Recherche für ihn durchaus nicht. Der Transport der Afrikaner ist ein riesiges Geschäft, da lässt man sich nicht gern in die Karten schauen. Gatti zählt und rechnet und kommt auf Millionensummen, die allmonatlich bei den Transporteuren wie den Kontrolleuren hängen bleiben. Nicht nur Menschen «wandern» auf dieser Route von Süd nach Nord, auch Zigaretten, Kokain und Waffen.

Undercover auf Lampedusa
Richtig undercover arbeitet Gatti erst auf der letzten Etappe seiner Recherche, als er für eine Woche die Identität eines kurdischen Flüchtlings annimmt und sich vor der Insel Lampedusa aus dem Meer fischen und ins dortige Lager einliefern lässt. Nur für diese Woche trifft korrekterweise zu, was der Buchtitel «Bilal», der Klappentext und etwas ungenaue Rezensionen verheissen (Gatti ist nicht ganz unschuldig daran, weil er die verschiedenen mit grossem Abstand unternommenen Reportagereisen zu einem Stück verbindet und keine Jahreszahlen nennt).

«Bilal» erlebt das Internierungslager als überfüllte Kloake mit überforderten, teilweise gewalttätigen und sadistischen Aufsehern. Es gelingt ihm, seine falsche Identität zu wahren und schliesslich entlassen zu werden – in die Illegalität. Auf das, was er danach auf süditalienischen Tomatenplantagen als moderner Sklave erlebt – eigentlich der notwendige dritte Teil dieses Triptychons der Auswanderung –, hat der deutsche Verlag aus Platzgründen leider verzichtet.

Es ist eine beeindruckende, immer wieder erschütternde Recherche, für die Gatti zu Recht mehrere Journalistenpreise erhalten hat. Er schreibt anschaulich und (meist) uneitel, mit Sinn für den provozierenden Kontrast von existenzieller Not und brutaler Geschäftemacherei. Er lässt die politischen Zusammenhänge nie aus den Augen, richtet den Blick aber immer auf den Einzelfall. Die Absicht ist deutlich: Aus den riesigen Zahlen, die bei Europäern Abwehrreflexe auslösen, sollen wieder Menschen werden, die ein Gesicht, einen Namen, ein Schicksal bekommen.

Die Heuchelei der Europäer
Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben auch für die, die im «falschen Teil der Welt» geboren sind, steht für ihn ausser Frage. Er bewundert ihren Mut, ihre Hartnäckigkeit, ihre Leidensfähigkeit. Er geisselt die Heuchelei der Europäer, vor allem der Italiener, deren Wirtschaft auf illegale, spottbillige und rechtlose Arbeitskräfte angewiesen ist. Was passieren würde, wenn man die Tür für alle öffnen würde, fragt er sich nicht, das ist nicht sein Thema. Ihm geht es um die Opfer eines globalen Ungleichgewichts – und um die Profiteure.

Zu denen gehört Libyen. Mit den 37 000 Boatpeople von 2008 hat Ghadhafi Italien erpresst, mit Erfolg: Er bekam einen Vertrag über Öl- und Gaslieferungen und 5 Milliarden Dollar für die Schäden des Kolonialismus. Dafür verpflichtete er sich, die Grenzen dichter zu machen. Die Lager in Lampedusa sind heute leer, die Afrikaner werden schon in Libyen abgefangen, ohne Rücksicht auf möglichen Asylstatus eingesperrt, abgeschoben in Herkunfts- oder irgendwelche Länder, manchmal einfach in die Wüste. Das UNHCR protestiert gegen diese Praxis. Und der Flüchtlingsstrom sucht sich neue Wege; aufhalten lassen sich Kofi, Oliver und die vielen Namenlosen nicht.


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