«Es herrscht ein Bulimie-Lernen: Reinfuttern, rauskotzen, vergessen»


von Sebastian Ramspeck und Balz Spörri, SonntagsZeitung, 31.10.2009


Soziologe Kurt Imhof über die Bologna-Reform als Plage für Studenten und Professoren

Herr Imhof, möchten Sie heute nochmals Student sein?
Nein, keinesfalls.

Warum?
Es herrscht ein Bulimie-Lernen: reinfuttern, rauskotzen, vergessen. Seit der Aufklärung gilt die Universität als Freiraum, wo man nachdenken, Kaffee trinken, diskutieren und herausfinden kann, was einen interessiert. Diese Freiheit wird den Studierenden heute nicht mehr gewährt. Sie sind Opfer der Bologna-Reform.

Inwiefern?
Kein einziges Ziel von Bologna wurde erreicht. Man wollte die Mobilität erhöhen. Tatsächlich hat sie abgenommen. Man wollte die Quote der Studienabbrecher reduzieren. Die Zahlen aus Deutschland zeigen das Gegenteil. Man wollte vergleichbare Abschlüsse. Tatsächlich wurde eine Unsumme von Studiengängen produziert und das wechselseitige Anerkennungsproblem multipliziert. Am schlimmsten jedoch: Die Lehre wurde auf den Mainstream verkürzt. Das Lehrpersonal ist gezwungen, das Wissen zu standardisieren und dann mit Multiple-Choice-Tests abzufragen. Das reduziert die Uni zu einer Paukschule. Die Proteste in ganz Europa richten sich dagegen.

In einer Umfrage äusserten sich die Studenten aber mehrheitlich positiv über ihr Studium.
Sie kennen nichts anderes, und seit den Neunzigerjahren ist die Mehrheit der Studierenden sehr auf Effizienz und den Berufsabschluss bedacht. Spannend aber ist: Durch die Moderne hindurch liess sich die Idee der «humanistischen» Universität immer nur auf Zeit verdrängen. Es gibt immer wieder Bewegungen, die den Freiraum des Denkens einfordern und so eine Bildungsdiskussion auslösen. Der Freiraum der Uni hat etwas Seismografisches für die ganze Gesellschaft.

Die Studentenproteste sind also eine «natürliche» Reaktion?
Jedenfalls eine immer wiederkehrende. Die Postulate sind dieselben wie 1968. Auch 1968 begann mit der Forderung nach einer Bildungsreform, auch wenn die Bewegung später weit darüber hinausging.

Haben Sie Kontakt mit Protestgruppen wie «Uni von unten»?

Nein, diese Gruppierung ist ja auch noch sehr klein. Sie ist ein Pflänzchen, dessen Überleben keinesfalls garantiert ist ...

... das aber Potenzial hat?

Es kann sich eine breitere Bewegung entwickeln. Das liegt daran, dass der Protest europaweit ist und es ein gemeinsames Thema gibt - Bologna. Die Reaktion der Zürcher Universitätsleitung zeigt, dass auch sie höchst unsicher ist, wie sich das Ganze entwickelt.

Die Gruppe «Uni von unten» hat einen Uni-Auftritt von Novartis-Chef Daniel Vasella verhindert. Ist das legitim?
Nein, grundsätzlich lebt die Universität vom Austausch von Argumenten. Die sanfte Gewalt des besseren Arguments muss sich durchsetzen. Dieses Leitbild ist wichtig. Das Problem, auf das «Uni von unten» hier aufmerksam macht, ist die einseitige Palette der Redner. Darüber lohnt es sich durchaus zu diskutieren.

Sie gelten als einer der wenigen Professoren, die die Kritik der Studenten an Bologna teilen.
Das ist falsch. Es gibt eine absolute Mehrheit von «verborgenen» Anti-Bologna-Professoren.

Davon merkt man in der Öffentlichkeit kaum etwas.
Die meisten Professoren ertragen Bologna wie eine biblische Heuschreckenplage. Die älteren warten auf die Emeritierung, die jüngeren versuchen, die Stellung in ihren kleiner gewordenen Freiräumen zu halten.

Was ist für Sie persönlich das Schlimmste an Bologna?
Bologna bedeutet auch eine riesige Bürokratie. Als Professor ist man einem Evaluations-Tsunami und epischen Lehrplanungen ausgesetzt. Am meisten stört mich aber etwas anderes: Die Studierenden sind heute nicht mehr primär daran interessiert, was ich sage, sondern an den «Bullett-Points», also dem, was sie für die Prüfung wissen müssen. Das ist nicht nur eine persönliche Kränkung (lacht), viel schlimmer: Es nimmt einem die Leidenschaft. Das Wissen wird heute wie durch einen Trichter vermittelt und am Schluss abgeprüft. Die Studierenden blicken nicht mehr über den Tellerrand hinaus. Sie können sich aus Zeitgründen nicht mehr kritisch mit etwas auseinandersetzen. Sie werden immer mehr eingeschränkt auf das, was gängig ist. Widerspruchslosigkeit ist der Tod des Innovativen.

Was muss am dringendsten an Bologna verändert werden?
Die Universitäten unterschätzen ihre Autonomie und passen sich an, anstatt ein eigenständiges Profil zu gewinnen. Die nötige Reform muss darauf hinauslaufen, dass sich die Universitäten wieder stärker voneinander unterscheiden. Das bedeutet nichts anderes, als ihre innere Freiheit zurückzugewinnen.


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