Berlin, brennende Autos und Gentrification

Ulrich Schmid, NZZ, 27. Juli 2009

Künstliche Aufregung oder Eskalation linksautonomer Gewalt?
Brennende Autos in Berlin lassen alte Diskussionen aufflammen und neue Frontlinien entstehen

In Berlin werden nachts immer häufiger Autos in Brand gesetzt. Polizei, Politiker und Medien vermuten die Täter im linksautonomen Milieu. Hier gibt man sich aber ratlos bis abwehrend, ja abwiegelnd. Viele Linke sehen das Problem in einer gezielt alarmistischen Berichterstattung.

Zunächst die Fakten. Seit Monaten werden in Berlin – in geringerem Ausmass auch in anderen deutschen Grossstädten – Autos angezündet. Die Polizei erteilt ausgesprochen freundlich und ausführlich Auskunft: 2007 kam es zu 113 Brandanschlägen, im letzten Jahr zu 73. Der Trend für dieses Jahr ist klar: Bis zum 7. Juli zählte man bereits 85 Anschläge. Der Berliner Senat hat bekanntgegeben, dass im Bundesland seit 2005 mehr als 1000 Autos brannten. Der einzige Politiker, der bisher ins Visier der Täter kam, war Robbin Juhnke, ein christlichdemokratisches Mitglied des Abgeordnetenhauses. Vor seinem Haus wurden zwei Fahrzeuge Unbeteiligter angezündet; die am Tatort gefundene Selbstbezichtigung stellte den Anschlag laut der Polizei aber in einen «Themenzusammenhang» mit dem Abgeordneten Juhnke. Festnahmen gab es in diesem Jahr bisher 10; daraus resultierten 4 Haftbefehle. Alle anderen Festgenommenen wurden auf Verfügung der Staatsanwaltschaft oder des Haftrichters wieder entlassen. In allen Fällen dauern die Ermittlungen des zuständigen Kommissariats an.
Opfer in allen Schichten

Für die meisten Politiker und Medien ist klar, dass die Täter aus dem linksautonomen Milieu kommen. Die Polizei hält sich, was diese Frage betrifft, an die ihr vorliegenden Selbstbezichtigungsschreiben, aus denen hervorgeht, dass die Täter «Nobelkarossen» nicht mögen oder es generell erfreulich finden, «Reiche» zu schädigen. «Angegriffen» wurden laut der Polizei aber auch Fahrzeuge, die von den Tätern in einer Strasse offenbar als die hochwertigsten angesehen wurden, «ohne es tatsächlich zu sein». Ein kleiner Giftpfeil soliden polizeilichen Fachverstands auf die im Korps verhassten Chaoten? Andere Taten richteten sich nicht primär gegen die Autos, sondern gegen deren Halter: gegen Rechtsextreme, Wirtschaftsführer oder Mitglieder von Polizei und Ordnungsämtern. Einige Anschläge erscheinen unter jeder Prämisse grotesk. Vor einigen Tagen etwa brannten in Lichtenberg 10 Lieferwagen, mit denen Essen für Kindertagesstätten (Kitas) ausgefahren wurde. Laut dem Bekennerschreiben versorgte der «Globalplayer», zu dem die Firma gehört, auch Gefängnisse.

Sind die Täter wirklich Linksautonome oder Linksradikale? Aufmerksame Beobachter bejahen die Frage fast durchwegs, die Bürgerlichen emphatisch und mit einem guten Schuss Entrüstung, Linke meist zögerlich, grollend und mit der Anmerkung, diese Leute seien ja wohl keine wirklichen Linken, sondern einfach «Durchgeknallte». Ein Augenschein in der Szene hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. An der Liebigstrasse 34 in Friedrichshain, wo die Antifa ein Büro unterhält, ist um 11 Uhr 45 alles still. AJZ-Nostalgie steigt hoch: In der Mittagssonne döst ein antifaschistischer Hund, auf dem Sims steht dreckiges Geschirr, die Wände sind interessant und farbig. Ton, Steine, Scherben.

René, ein vorbeischlendernder Sympathisant, überzeugt uns, vor 2 Uhr sei hier ganz sicher niemand zu erwarten, man habe gefestet. Dafür ist er auskunftsfreudig. Für ihn sind die brennenden Autos das Werk von Rechtsextremisten mit dem Ziel, die Linke «generell kaputtzumachen». René findet zwar Gewalt gegen Sachen grundsätzlich in Ordnung; ziemlich stolz und ungefragt gibt er zu, sie am 1. Mai jeweils auch anzuwenden. Aber in diesem Falle sind's keine Linken, da ist er sicher. Indizien für seine Theorie hat er keine.

Der radikale Chic der Grünen
René ist isoliert, selbst in der Szene. Die meisten Berliner Linken vermuten die Täter durchaus in ihrem autonomen Milieu. Das Entscheidende in diesen Kreisen ist aber nicht die Täterschaft, sondern die Frage, wie man ihre Aktionen bewertet. Und da dominiert die Sympathie. Mach kaputt, was dich kaputtmacht – in der Berliner Schickeria, die etwas betörend Vorgestriges ausstrahlt, findet man kaum jemanden, der Rio Reisers alten Satz nicht zumindest «irgendwie» gut fände. Zur Tat aber würden die wenigsten schreiten.

Vertreter der Parlamentsparteien, die auf Stimmen angewiesen sind, kokettieren zwar seit Jahren immer wieder mit ungesetzlichen und verbotenen Aktionen, wie etwa mit der von der Polizei verhinderten Besetzung des Geländes des stillgelegten Flughafens Tempelhof am 20. Juni. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Franziska Eichstädt-Bohlig, beispielsweise spielte die Besetzung, bei der es dann zu handfesten Ausschreitungen kam, als «zivilen Ungehorsam» herunter, und Evrim Baba, Abgeordnete der Linkspartei und frauenpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, bezeichnete sie als «legitim». Mit der Aktion wollten Linksautonome die geplante Nutzung des Geländes für «Reiche» verhindern.

Die halbherzige Solidarisierung vor allem der Grünen mit diesen Aktionen kommt in der Szene gar nicht etwa gut an. Warum ausgerechnet die Grünen, die die reichste Klientel aller Parteien stellen, so tun, als hätten sie irgendetwas mit den armen Linksautonomen gemein, bleibt in der Tat unergründlich – René grimassiert vor Abscheu. Andere Gruppen kommen bei ihm besser weg, vor allem die Linkspartei, vermutlich, weil sie das Derbe, Proletarische hat, das den Grünen fehlt. Doch nicht einmal die stalinistische Zeitung «Junge Welt», die etwa im Falle von Kurdistan oder dem Irak Gewalt als Mittel gegen Kapitalismus und Imperialismus durchaus gutheisst, kann mit Renés Konspirationstheorie etwas anfangen. Chefredakteur Arnold Schölzel und sein Stellvertreter Rüdiger Göbel betonen, hier gehe es «bestenfalls um Randale». Dies sei kein politischer Vorgang; die Täter seien vermutlich ganz einfach krank. Die «Junge Welt» verteidigt oder relativiert gerne die Machtstrukturen der untergegangenen DDR; ihr scheint das Autoritäre eher zu liegen als das Spontane, Anarchische. Autos anzünden ist denen eindeutig zu wild.

Verhasste Yuppies

Die in den Bekennerschreiben angeführten Motive der Brandstifter versteht man in der linken Szene bestens, auch wenn man die Taten verurteilt. Kritisiert wird hier vor allem die «gentrification», manchmal auch «Yuppisierung» genannt: die gezielte bauliche Umgestaltung und Aufwertung eines Quartiers. Alte Häuser werden teuer renoviert, Arme gehen, Reiche kommen, was einst «echt», da arm, war, wird teuer und chic. Wie einst im Greenwich Village. In Berlin betrifft diese Entwicklung Gegenden wie Kreuzberg, den Prenzlauer Berg oder Friedrichshain. In schicken Apartments leben hier inzwischen Tausende von Yuppies – und natürlich gehörten nicht wenige von ihnen einst selber zur Szene, die nun ihre Fenster mit Farbbeuteln bewirft.

Sicher gibt es Projekte, die stören. «Carloft»-Gebäude etwa warten mit einem in die Wohneinheit integrierten Autoabstellplatz auf und sind nur für sehr Begüterte erschwinglich – warum sie ausgerechnet in Kreuzberg gebaut werden müssen, kann man sich tatsächlich fragen. «Gentrification» ist das, was die Szene Anfang Juni mit ihrer «action week» bekämpfen wollte, und die zahlreichen Kurse, die zur Vorbereitung belegt werden konnten – «Basteln gegen Gentrifizierung» –, zeigen, dass es nicht beim Keksebacken blieb. Man darf davon ausgehen, dass die wenigsten in diesem Milieu etwas dagegen haben, wenn ab und zu einmal ein Auto in Brand gesteckt wird.

Der Antipode von Menschen wie René, Schölzel, Göbel, Eichstädt-Bohlig oder Baba heisst Björn Matthias Jotzo und ist Vize-Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Abgeordnetenhaus. Der junge Anwalt neigt nicht zur Verharmlosung. Die brennenden Autos deutet er als Indiz für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel und für eine besorgniserregende Zunahme der Gewaltbereitschaft im linken Spektrum. Jotzo nimmt Anstoss daran, dass die Anschläge gegen Autos in der linken Szene «gewürdigt» werden, und er erinnert daran, dass im umgekehrten Fall, also wenn es um Rechtsextreme geht, von linker Seite stets nachdrücklich und vollkommen zu Recht an das Motto «Wehret den Anfängen» erinnert wird.

Gegen Linksextreme solle man mit gleicher Entschiedenheit vorgehen, sagt er. Das werde nicht getan; der rot-rote Senat von Oberbürgermeister Klaus Wowereit diene sich im Gegenteil der Linken an. Politiker und Politikerinnen wie Evrim Baba, die auch schon gegen das Grundgesetz demonstriert hat oder sich von der Polizei an einer Demonstration wegtragen liess, finden beim eloquenten Jotzo keine Gnade. Wowereits Sozialdemokraten, die mit der Linkspartei koalieren, ebenso wenig.

Wowereit unter Druck
Man kann sich beim Politisieren im Umfeld der brennenden Autos gehörig die Finger verbrennen. Schwer hat es in erster Linie die Linkspartei, die einerseits in der Regierungsverantwortung steht, gleichzeitig aber auch Partisanen vom Schlage einer Evrim Baba in ihren Reihen weiss, die ihre Führung offen desavouieren. Wowereit seinerseits sieht sich heftigen Angriffen der Bürgerlichen ausgesetzt, die ihm eine lasche Haltung und in Ausnahmefällen gar heimliche Sympathien für die Täter vorwerfen. Die hat er mit Sicherheit nicht – die Stellungnahmen des Oberbürgermeisters lassen an Klarheit ebenso wenig zu wünschen übrig wie die seines Innensenators Erhart Körting oder die des Polizeipräsidenten Dieter Glietsch. In der CDU, die in Berlin zu einer ziemlich üblen Apparatschik-Partei verkommen ist, sieht man das allerdings anders. «Rot-Rot» sei auf dem linken Auge blind, meinte jüngst der CDU-Fraktions- und -Parteichef Frank Henkel. Andere sprechen erbost von einer Kapitulation vor linker Gewalt.

Die Fronten sind damit leidlich klar. Die meisten Linken verurteilen die Anschläge, glauben aber, die Bürgerlichen blähten sie bewusst und alarmistisch auf in der Absicht, den rot-roten Senat zu diskreditieren. Unionspolitiker wiederum betonen das Prinzipielle und wittern Sitten- und Staatszerfall. Dass die Angelegenheit von beiden Seiten politisch instrumentalisiert wird, steht ausser Frage – niemandem ist entgangen, mit welcher Inbrunst sich die Springer-Presse auf das Thema der Anschläge gestürzt hat und wie routiniert sie in ihrer Berichterstattung immer wieder unter die Gürtellinie zielt.

Dass es zwischen dem Polizeikorps und dem Senat zu argen Spannungen kam, ist sicher nicht ausschliesslich, aber eben auch eine Folge der bewussten Zuspitzung auf allen Seiten. Gewalt polarisiert. Aus der Gewerkschaft der Polizei war beispielsweise zu hören, durch Fehler der Einsatzleitung seien die Ordnungshüter am 1. Mai faktisch «der Steinigung preisgegeben» worden. Nach derartig emotionalen Ausbrüchen ist es schwer, das Vertrauen zwischen Politik und Administration wiederherzustellen.

Auffallend bleibt bei alledem, dass in der öffentlichen Diskussion die Frage nach dem geistig-moralischen Hintergrund der Gewaltexzesse kaum je angerührt wird. Das verblüfft, denn gerade Sozialdemokraten behaupten ja oft und gerne, dass beispielsweise der Rassismus vor allem dann zum Blühen komme, wenn sich im bürgerlich-parlamentarischen Milieu das Vokabular verändert, wenn der Ruf nach Durchgreifen, nach härterer Strafgesetzgebung oder einem Einwanderungsstopp wohlfeil wird. Dass ähnliche Phänomene auch auf der Linken zu beobachten sind, wird verdrängt. Dabei sind sie evidenter denn je.
Hetze gegen die «Reichen»

Politiker wie Oskar Lafontaine oder Sarah Wagenknecht treten stets in einer Atmosphäre auf, zu der nur noch das Motto «Reiche sind Schweine» so richtig passen will, und selbst auf sozialdemokratischen Parteitagen sind inzwischen geifernde Attacken gegen «Reiche» die Regel. Die Hatz beschränkt sich nicht auf die Politik. Auch in den Talkshows der Fernseh- und Radioanstalten kommen Besserverdienende böse unter die Räder. Jeder, der solche Tiraden abliefert, wird mit Applaus bedacht; wer sie in jener charmanten Unbeholfenheit vorträgt, die «Authentizität» suggeriert, darf mit Ovationen rechnen. Die deutsche Gesellschaft weiss – wieder einmal – sehr genau, was gerecht und gut ist.

Ob diese anklagende Grundhaltung der gewaltbereiten linksautonomen Szene das Leben und das Zuschlagen erleichtert, ob sie enthemmend und legitimierend wirkt – das wäre die Frage, die es zu erörtern gälte. Doch diese Chance wird verpasst. Linke schieben die These in der Regel unwirsch weg, ohne Gegenargumente zu liefern. Bürgerliche wiederholen sie zwar gerne, aber fast immer nur vor eigenem Publikum, und auch da eher verschämt, denn mittlerweile ist selbst die CDU an dem Punkt angekommen, wo sie sich fragt, ob es nicht sinnvoll wäre, die «Reichen» als Klientel generell abzustossen. Trösten können sich die Bürgerlichen vorläufig nur damit, dass sich die Kluft zwischen der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung auch in Berlin unerbittlich weitet. Umfrage um Umfrage belegt, dass die Reichen-Schelte nicht verfängt und dass die Linke bisher aus der Wirtschaftskrise keinen Profit gezogen hat.


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