Die EU fürchtet um ihren Zusammenhalt

Stephan Israel, Tages Anzeiger, 09.03.2009

Je länger die Krise dauert, desto stärker wird das Selbstverständnis der EU auf die Probe gestellt. Das Grundprinzip der Solidarität steht auf dem Spiel.

topelement
Rating nach «Standard & Poor's»
Quelle: http://files.newsnetz.ch/story/2/9/5/29516777/19/topelement.JPG

In Brüssel haben Schreckensszenarien Hochkonjunktur: Geht der Euro in den Turbulenzen der Finanzkrise unter? Kommt es angesichts von Massenentlassungen zum Flächenbrand und zu sozialen Unruhen in einzelnen Mitgliedsstaaten? Droht den Neumitgliedern im Osten der Reihe nach der Staatsbankrott, oder bricht die EU gar auseinander? Alles Fragen, zu denen sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso nicht äussern will. «Spekulationen über Negativszenarien helfen nichts», sagt sich der Portugiese diese Woche nach dem Krisengipfel der Union vom Sonntag in seinem Brüsseler Hauptquartier.

Der entfesselte Markt ist out
Barroso wirkt in diesen Krisentagen mehr wie ein Getriebener denn wie ein Akteur. Einige in der EU sehen den eloquenten Kommissionspräsidenten als Teil des Problems. Andere schimpfen über den «neoliberalen» Portugiesen und sehen ihn als Symbol einer gescheiterten Ära. In den fünf Jahren seiner Amtszeit hat Barroso für den freien Markt plädiert und möglichst wenig Regeln gepredigt. Das angelsächsische Modell galt sehr zum Ärger von Franzosen, Deutschen oder auch Italienern in Brüssel als grosses Vorbild und die boomende Londoner Finanzmetropole als Erfolgsgeschichte. Irland mit seinem Rekordwachstum liess sich als «keltischer Tiger» feiern. Balten oder Slowaken wurden dank Flat Tax als Niedrigsteuerparadies, als Trendsetter gepriesen und den «alten Europäern» bei Gelegenheit als Beispiel vorgehalten.

Heute ist alles anders. Der entfesselte Markt ist jetzt out, Regeln und Leitplanken sind nun angesagt. Doch die einst als neoliberal verschriene Barroso-Kommission tut sich mit ihrer neuen Rolle schwer. Die EU-Kommission hinkt bei der Suche nach Antworten auf die Krise immer einen Schritt hinterher. Sie wirkt, als würde sie sich auf einer Geisterbahn befinden. Hinter jeder Ecke verbergen sich neue Gefahren, und niemand scheint derzeit in Brüssel sagen zu können, wann mit dem Licht am Ende des Tunnels zu rechnen ist. Zuerst galt es, die Banken im alten Europa von «giftigen Papieren» zu säubern und zu stabilisieren. Dann wurde aus der Finanz- eine Wirtschaftskrise. Und nun hat die Krise die anfänglich verschonten Staaten an den Rändern Europas erreicht: Die Banken dort gehören in grosser Mehrheit Mutterhäusern im alten Westeuropa, denen nun das Geld fehlt, die nach der Wende aufgekauften Filialen über Wasser zu halten.

Viele der Vorschläge, die Barroso diese Woche mit Blick auf den nächsten EU-Gipfel am 19. März präsentiert hat, sind gut für die übernächste Krise. Eine Art europäische Finanzaufsicht soll zum Beispiel verhindern helfen, dass sich die Exzesse der Boomjahre in Zukunft wiederholen können. Doch zu den akuten Herausforderungen gibt es nicht nur von Barroso wenig Antworten. Schliesslich will niemand in Brüssel den Teufel an die Wand malen. Es sei nicht klug, öffentlich über Lösungen zu sprechen, sagte EU-Währungskommissar Joaquín Almunia zu Optionen, sollte ein Eurostaat pleitegehen. Die Kommission sei aber «intellektuell, politisch und wirtschaftlich» gerüstet. Beruhigende Worte klingen anders. Nein, die Wahrscheinlichkeit, dass die Eurozone auseinander breche, sei gleich null, so Almunia weiter: «Wer würde so verrückt sein, die Eurozone zu verlassen?»

Der Euro als sicherer Hafen
Tatsächlich, die Kandidaten drängen sich derzeit. Der Euro gilt als sicherer Hafen. Balten, Ungarn oder Bulgaren hätten angesichts der Not gerne kürzere Fristen im Wartezimmer zur Einheitswährung. Doch die Westeuropäer wollen ihre Prinzipien nicht einfach über Bord werfen und die Zugangskriterien selbst in Krisenzeiten nicht aufweichen.

In der EU brechen Konfliktlinien auf und werden alte Geister wieder wach. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hat mit seinem Aufruf an die französische Automobilindustrie, vor allem für Arbeitsplätze an heimischen Produktionsstandorten zu sorgen, viel Porzellan zerschlagen. Doch auch in Spanien oder in Grossbritannien gab es Regierungsappelle an die Konsumenten, beim Einkauf «national» zu denken. Der Krisengipfel vom vergangenen Sonntag sollte dazu dienen, die Geister des Protektionismus zu vertreiben. Doch das Treffen hat die Gespenster der Vergangenheit nur vorübergehend in die Schranken weisen können.

Warnung vor neuem Eisernen Vorhang
Die neuen Mitglieder im Osten fühlen sich von den Gründungsmitgliedern der EU im Stich gelassen. Der ungarische Regierungschef Ferenc Gyurcsany warnte vor einem neuen Eisernen Vorhang zwischen Ost und West. Die Art, wie die EU den Eindruck mangelnder Solidarität aus dem Weg räume, werde entscheidend für ihr Überleben sein, mahnt Vessela Tcherneva vom European Council on Foreign Relations (ECFR), einer Denkfabrik.

Die Krise geht ans Selbstverständnis der EU. Die Solidarität zwischen ärmeren und reicheren Mitgliedsstaaten hat die ungleiche Familie bisher zusammengehalten. Der gemeinsame Binnenmarkt für Personen, Güter und Dienstleistungen ist das Gegenstück. Die Krise erschüttert alte Gewissheiten. An Ratschlägen von Brüsseler Denkfabriken mangelt es derzeit nicht. Daniel Gros vom Centre for European Policy Studies (CEPS) warnt vor einem Kollaps an der europäischen Peripherie. Der CEPS-Direktor plädiert für einen Europäischen Fonds, der die Banken im Osten wieder mit Geldmitteln ausstatten könnte.

Andere sehen die Herausgabe von Eurobonds als Lösung, um billiges Geld aufzutreiben. Angeschlagene Staaten an der Peripherie müssen heute deutlich höhere Zinsen zahlen, wenn sie über Staatsanleihen Geld aufnehmen wollen. Über Gemeinschaftsanleihen oder Eurobonds könnten sie vom vergleichbar guten Ruf Deutschlands, der Niederlande oder Frankreichs profitieren. Doch die alten Europäer sperren sich noch, nach den Milliarden für Kohäsions- und Strukturfonds nun schon wieder für die Neuen in der Familie aufzukommen.

Ein Solidaritätstest für die EU

Katinka Barysch vom Londoner Centre for European Reform (CER) sieht die EU vor dem grossen Solidaritätstest. Firmen in der Slowakei, Ungarn oder Polen könnten bankrottgehen, weil westeuropäische Bankzentralen ihren lokalen Filialen den Geldhahn zudrehen könnten. Die Osteuropäer könnten sich bald die Frage stellen, ob es weise gewesen sei, auf die Ratschläge aus Brüssel zu hören, die Märkte zu öffnen und dem Ausverkauf der heimischen Banken zuzustimmen.

«Brüssel» sei zu sehr im Dienst der alten, reichen Familienmitglieder, die in Zeiten der Krise vor allem an sich selbst denken, so die Klage von Diplomaten aus östlichen Mitgliedsstaaten. Auch Katynka Barysch plädiert für einen Notfallfonds, damit westeuropäische Banken Unternehmer in den früheren Ostblockstaaten wieder mit Krediten versorgen können. Die Expertin warnt vor sozialen Unruhen und der Gefahr, dass in den ehemals kommunistischen Mitgliedsstaaten Populisten die Oberhand gewinnen. Diese hätten ein leichtes Spiel, die Errungenschaften der Erweiterung wie Marktwirtschaft und Demokratie infrage zu stellen.

Die positive Nachricht ist, dass die EU-Mitgliedsstaaten gar keine andere Wahl haben, als den Kollaps an der Peripherie zu verhindern. Zumindest hier sind sich Experten in Denkfabriken und EU-Kommission einig: Der Preis des Nichtstuns wäre viel höher als alle Rettungsprogramme.

Ein Lagebericht aus sechs Staaten in der EU

Österreich
: Das Land blickt besorgt nach Osten
Jahrelang verdienten Österreichs Banken am Boom in Osteuropa. Nun droht die Pleite. Zudem steigt die Zahl der Arbeitslosen.

301 695. Die Zahl prangte am Wochenende fett auf den Titelseiten österreichischer Zeitungen. 301 695 Menschen waren im Februar in Österreich arbeitslos gemeldet, fast 24 Prozent mehr als im Februar 2008. Eine so dramatische Zunahme hatten nicht einmal Pessimisten vorausgesagt. Vor allem die sinkenden Exporte treffen die österreichischen Unternehmen hart: Die Autozulieferindustrie hatte in Österreich jahrelang expandiert, nun aber bleiben die Aufträge aus Deutschland aus. Etliche Unternehmen mussten bereits Zahlungsunfähigkeit anmelden. In der Schwerindustrie wurden sämtliche Temporärarbeiter entlassen und die Arbeitszeiten der Stammbelegschaft reduziert. Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.

Die Politik reagiert mit Verschrottungsprämien für Autos, Investitionen in die Infrastruktur und Umschulungsprogrammen, schafft aber keinen Stimmungsumschwung. Da hilft auch das Lächeln des sozialdemokratischen Kanzlers wenig. Am meisten fürchten sich die Österreicher vor einem Zusammenbruch der Wirtschaft in Osteuropa. Österreichs Banken finanzierten den Boom in den neuen EU-Ländern, in Kroatien, der Ukraine und in Russland. Ende 2008 hatten sie 230 Milliarden Euro Kredit vergeben. Davon drohen 10 Prozent auszufallen. Die Verluste müssten durch staatliche Zuschüsse aufgefangen werden, was Österreich überfordern würde.

Im Oktober beschloss das Wiener Parlament, den heimischen Banken mit 100 Millionen Euro zu helfen (die meisten Banken nahmen die Hilfe bis heute nicht in Anspruch). Jetzt macht sich Österreich in der EU für eine europäische Bankenhilfe für Osteuropa stark. Bisher ohne Erfolg.

Eine Reise des österreichischen Finanzministers Josef Pröll durch Osteuropa verärgerte die neuen EU-Länder, weil sie alle in einen Topf geworfen wurden. In Tschechien, der Slowakei oder Slowenien drohen aber weniger Kreditausfälle als in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien. Der tschechische Aussenminister Karel Schwarzenberg bringt die Stimmung in Osteuropa und in Brüssel gegenüber den Österreichern auf den Punkt: «Ihr habt fett verdient, jetzt müsst ihr auch zahlen.» (bo)

Grossbritannien: Das Vertrauen in die Elite schwindet
Das Vertrauen in die Elite schwindet Zerfällt die Labour Party? Sind die Konservativen überfordert? Andere Kräfte suchen sich heute die Lage zunutze zu machen.

Zerfällt die Labour Party? Sind die Konservativen überfordert? Andere Kräfte suchen sich heute die Lage zunutze zu machen. Eine ungewöhnliche Stimmung hat sich der Britischen Inseln bemächtigt. Die Bulldogge knurrt, ist sich aber auch nicht sicher, wem sie einen Fetzen aus der Hose reissen soll. Die Mischung aus Verwirrung und wachsendem Unmut über die Krise würfelt die britische Politik kräftig durcheinander. Wie Tony Blair es einmal so schön sagte: Das Kaleidoskop ist in Bewegung geraten.

Dabei bleiben die Briten natürlich die Briten. In Bewegung zu geraten, bedeutet nicht gleich Strassenkämpfe und Bau von Barrikaden. Immerhin, zu ein paar wilden Streiks ist es schon gekommen in der Folge des Wirtschaftseinbruchs. Einem Trupp italienischer Arbeiter hat man die Stirn geboten, unter Berufung auf die Gordon-Brown-Parole «Britische Jobs für britische Arbeiter». Andere Proteste dieser Art sind angesagt. Die britische Nationalpartei, die BNP, reibt sich die Hände - auch wenn die Demonstranten versichern, dass sie allein für Arbeiterrechte kämpften und mit Nationalismus, mit Protektionismus nichts am Hut hätten. Ansonsten hat sich der Aufstand (bisher) in Grenzen gehalten. Wo Zorn laut wurde, richtete er sich gegen gewissenlose Spekulanten, auch gegen Banker mit unverbesserlichem Bonus-Bedarf. Was die Regierung betrifft, äussert sich der Unmut eher in stummer, kollektiver Abwendung. Das Vertrauen in Gordon Brown, New Labours grossen Strategen, ist dahin. Bei den nächsten Unterhaus-Wahlen, die binnen 15 Monaten abgehalten werden müssen, droht der linken Volkspartei eine katastrophale Niederlage.

Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da immer mehr Briten grösseren Regierungseinfluss, mehr Politik sozialdemokratischer Art, mehr solidarische Werte fordern. Nur wird eben Labour gleichzeitig für die heutige Misere verantwortlich gemacht. Und während die Konservativen für 2010 bereits fest mit der Ablösung Browns rechnen, sehen sie sich selbst (noch) wenig geliebt von den Wählern. Sie stehen bis heute der Oberschicht und dem grossen Geld so hartnäckig nahe, dass sie von vielen als Teil des Problems und nicht der Lösung betrachtet werden. (P.N.)

Italien
: Silvio Berlusconi macht auf Optimismus
Die Regierung von Premier Silvio Berlusconi verbreitet Fröhlichkeit. Dabei steckt Italien bereits tief in einer Rezession.

Seit wenigen Tagen ist es amtlich: Italiens Bruttoinlandsprodukt war 2008 so niedrig wie seit Mitte der 70er-Jahre nicht mehr. Mit einem Minus von einem Prozent befindet sich das Land bereits in einer tiefen Rezession, und die Prognosen für dieses Jahr gehen sogar von minus 2,5 Prozent aus. Dazu ächzt das Land seit Jahren unter der höchsten Staatsverschuldung in der EU und einer strukturellen Krise.

Der konservative Regierungschef Silvio Berlusconi und sein Finanzminister Giulio Tremonti aber verbreiten bisher, anders als viele ihrer europäischen Kollegen, Optimismus - paradoxerweise nicht völlig ohne Grund.

Denn Italiens Bankensystem ist mit Ausnahme der Unicredito gegen den Sturm insofern besser gewappnet, als es sich kaum auf unübersehbare Abenteuer im Ausland eingelassen hat. Keine italienische Bank werde Konkurs anmelden und kein Sparer auch nur einen Euro verlieren, versprach Berlusconi bereits im Oktober. «Italiens Wirtschaft ist gut gerüstet für die Krise», erklärt er bei jeder Gelegenheit, und bislang glauben das zumindest seine Anhänger nur allzu gern.

Tatsächlich blieben die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die das Rückgrat der Wirtschaft bilden, vorerst von dramatischen Einbrüchen verschont - anders als etwa der Autokonzern Fiat. In den vergangenen Wochen aber haben sich die Hiobsbotschaften gehäuft. Selbst krisensichere Sparten wie die Modeindustrie werden geschüttelt, und Konkursmeldungen reissen nicht ab.

Die Regierung will deshalb ein 16 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm lancieren. Ausserdem denkt man über eine gesetzliche Verkürzung der Mindestarbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche nach, solange die Rezession anhält.

Im Teil der Bevölkerung, der nicht auf Seiten Berlusconis steht, aber wächst der Unmut über die Sozialpolitik. Zwar hatte Berlusconi im Wahlkampf Steuererleichterungen und umfassende Unterstützung für sozial Schwache versprochen, umgesetzt wurde davon aber kaum etwas, und viele Familien kommen schon ab Mitte Monat kaum noch über die Runden. (kd)

Lettland
: Der erste baltische Tigerstaat stürzt ab
Vor kurzem noch zehn Prozent Wachstum, heute droht der Staatsbankrott. Eine neue Regierung soll ihn verhindern.

Vor kurzem noch zehn Prozent Wachstum, heute droht der Staatsbankrott. Eine neue Regierung soll ihn verhindern. An der Ostsee berühren sich die Extreme - im gleichen Land: Lettland, das vor zwei Jahren mit über zehn Prozent noch die höchste Wirtschaftswachstumsrate der gesamten EU aufwies, muss in diesem Jahr mit einer rekordverdächtigen Rezession von weit über zehn Prozent rechnen. Schlimmer noch: Die Mittel, diese schwerste Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit 1991 zu bekämpfen, sind weitgehend ausgeschöpft.

Die vergangene Woche auseinandergebrochene Mitte-rechts-Koalition von Ministerpräsident Ivars Godmanis hatte bereits im letzten Herbst die wichtigsten Banken des Landes verstaatlichen lassen, die Gehälter der Staatsangestellten gesenkt und die Steuern erhöht. Zudem wurde mit dem Internationalen Währungsfonds ein Notkredit von umgerechnet fast 10 Milliarden Franken ausgehandelt. Doch das bremste den Absturz nicht, und im Januar kam es erstmals zu schweren Strassenschlachten zwischen aufgebrachten Bürgern und der Polizei. Staatspräsident Valdis Zatlers forderte in der Folge Regierungschef Godmanis ultimativ auf, umfassende Verfassungsreformen einzuleiten. Sie sollen die direktdemokratischen Volksrechte der 2,7 Millionen Bürger stärken.

Eine solche Reform soll nun Valdis Dombrovskis in die Wege leiten. Der 38-jährige bisherige EU-Parlamentsabgeordnete wurde diese Woche von Zatlers mit der Regierungsbildung in Riga beauftragt. Er will jetzt eine Fünf-Parteien-Koalition bilden. Sie verfügt über 63 der 100 Sitze im Parlament.

Bei seiner ersten Medienkonferenz in Riga warnte der frühere Mitarbeiter der lettischen Zentralbank und Ex-Finanzminister Dombrovskis eindringlich vor einem «unmittelbar bevorstehenden Staatsbankrott». Es wird erwartet, dass der neue Ministerpräsident nicht darum herum kommen wird, die lettische Währung, den Lat, abzuwerten und zudem die Lohnzahlungen an Staatsangestellte und Rentenbezüger vorübergehend einzustellen: Damit sind neue Proteste programmiert. Der brutal abgestürzte Ex-Tiger Lettland steht vor einem heissen Frühjahr. (b.k.)

Ungarn: Der Musterschüler wird zum «kranken Mann»
Zu lange haben Gesellschaft und Staat auf Pump gelebt. Jetzt können sie die Zinsen kaum noch zahlen.

Beim Krisengipfel der EU zu Beginn dieser Woche wollte Ferenc Gyurcsany mit der grossen Kelle anrühren. 160 Milliarden forderte Ungarns Regierungschef. Er sprach von einem «Hilfspaket für die Länder Ost- und Mitteleuropas», meinte aber eher ein Hilfspaket für sein eigenes Land. Ungarn ist von der Krise deutlich stärker als andere EU-Staaten im Osten betroffen; ein Bankrott des Staates könnte Nachbarländer mit in den Abgrund reissen.

Vergangenen Herbst war es beinahe schon so weit: Nur eine schnelle Kreditzusage von Weltbank, EU und Internationalem Währungsfonds über 20 Milliarden Euro konnte den ungarischen Staat vor der Pleite retten. Die damals versprochene Wirtschaftsreform samt drastischen Sparmassnahmen konnte Gyurcsany im Parlament allerdings nicht durchbringen; seine Regierung hat seit dem Absprung des liberalen Koalitionspartners keine Mehrheit.

Aus dem einstigen Musterschüler unter den neuen EU-Staaten ist der «kranke Mann Europas» geworden. Zu lange lebten Gesellschaft und Staat auf Pump. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs finanzierten die Ungarn ihre neuen Wohnungen, Autos, Wochenendhäuser mit Krediten in Yen und Schweizer Franken. Der Staat machte es nicht anders: Wann immer Eisenbahner, Lehrer, Polizisten, Ärzte mit Protesten drohten, bekamen sie Lohnerhöhungen. Der soziale Frieden konnte erhalten werden - das Budgetdefizit geriet jedoch ausser Kontrolle. Die für 2010 geplante Einführung des Euro musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Seither geht es immer schneller bergab: Ausländische Investoren ziehen Kapital ab, Firmen schliessen. Durch die Abwertung des Forint werden die Fremdwährungskredite immer teurer; die Rückzahlung der Zinsen frisst die Einkommen der Mittelschicht auf. Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit steigen dramatisch - die Gemeinden sind pleite und müssen Beamte und Lehrer entlassen. Davon profitieren rechtsextreme Gruppen. Die Hetze gegen Minderheiten eskaliert. Gyurcsany will nun die Polizei aufrüsten. Was den Staatshaushalt noch zusätzlich belastet.(bo)

Griechenland: Die Unzufriedenheit erfasst alle Kreise
In Griechenland hat das alte Günstlings- und Klientelsystem bis heute überlebt. Das verhindert Reformen im Land.

Griechenland gibt kein gutes Bild ab. Ein desillusioniertes Land, das für den Moment zumindest die Hoffnung in seine Führer und in seine Zukunft verloren hat. Am Donnerstag war die Akropolis geschlossen: Die Mitarbeiter des Kulturministeriums streikten. Am Tag davor war der Gesundheitssektor bestreikt worden. Und mehrere Häfen. Letzten Monat waren es die Fluglotsen. Und die Bauern, die die Autobahnen blockierten. Für nächsten Monat ist ein Generalstreik angekündigt.

Alle sind unzufrieden. Die Jugend von Athen hat ihrem Unmut über fehlende Jobs und 700-Euro-Monatslöhne im Dezember mit Feuer und Steinen Ausdruck verliehen. Die Krise macht dem Land zu schaffen, ja, aber sie hat nur ans Tageslicht gebracht, was lange schon morsch ist im Kern von Wirtschaft und Gesellschaft: Das alte Günstlings- und Klientelsystem, das bis heute überlebt hat.

An der Oberfläche sieht Griechenland aus wie ein moderner EU-Staat. In Wirklichkeit gingen all die EU-Milliarden der letzten Jahre vor allem in prestigereiche Infrastrukturprojekte - während dringend nötige Reformen in Landwirtschaft, Bildung und Innovation versäumt wurden. Als die Weltbank jüngst eine Rangliste der Wettbewerbsfähigkeit erstellte, da landete Griechenland weit hinter der Türkei und Albanien. Von allen EU-Ländern ist Griechenland bei den Ratingagenturen das am wenigsten kreditwürdige.

Und die konservative Regierung von Kostas Karamanlis? Sitzt Feuersbrünste und Korruptionsskandale, eine brennende Hauptstadt und die Weltfinanzkrise aus und sagt: «Weiter so!» «Die Regierung zog es vor, den Sturm zu ignorieren», schreibt die Zeitung «Athens Plus»: «Sie tat nichts, um sich zu wappnen - bis unsere Probleme so gross wurden, dass sie sagen konnte, jetzt sei die Lage leider so miserabel, dass man nichts mehr tun könne.»

Für einen Moment sah es im Dezember so aus als müsse sich etwas ändern im Land. Der Moment scheint vorüber. Es herrscht Resignation über die politische Klasse als solche: Jeder zweite Grieche hat die Hoffnung verloren in Regierung und Opposition. (kas.)


Creative Commons LicenseDieses Werk ist unter einer
Creative Commons-Lizenz
lizenziert.

Trackback URL:
https://rageo.twoday.net/stories/5569178/modTrackback

Trackbacks zu diesem Beitrag

Verlorene Generation - 16. Mär, 15:35

Update Länderrisiko 16.03.2009

Mit leicher Verspätung nun die aktuelle... [weiter]