Tutorium` Die frühen kritischen Geographen

Veranstaltung 1, 23. Februar 2009

Zentrale Aussagepunkte Kropotkins
im Textauszug aus „Decentralisation, Integration of Labour and Human Education“

Im genannten Ausschnitt formuliert Kropotkin einen Aufruf zur Dezentralisierung der Produktion, zur Integration einzelner Arbeitsschritte und zu einer veränderten Bildung der Menschen. Er beobachtet, dass die Bauern, welche jeden Schritt einer Produktionskette nachvollziehen und verfolgen können, zu Anachronismen werden. Eine Entwicklung, die es nach Ansicht Kropotkins aufzuhalten gilt. Denn die Zersplitterung der Produktionsschritte in Regionen bzw. die Spezialisierung der Arbeitenden führe sowohl zum Verlust des Bezuges zum Produkt (und damit zu einem übermässigen, unkontrollierbaren Konsum derjenigen, die die finanziellen Mittel aufbringen können) als auch zu monotonen Arbeitsverhältnissen.

Um den drohenden Zusammenbruch des auf privatem Besitz basierenden Systems zu verhindern, schlägt Kropotkin vor, einen Ausgleich von Industrie und Landwirtschaft zu finden. Denn otherwise the people „soon forgot the bonds which formerly attached them to the soil“ (S. 382). Ausserdem diene Konzentration und Zentralisierung nicht der Verbesserung der Produktion oder der Senkung der Kosten, sondern sei ein Mittel zur Marktdominanz, die eher das zerbrechliche Gefüge der menschlichen Gemeinschaft einschränke, als dass sie zu einem gesunden Austausch beitragen könne. Auch in der Bildung schlägt Kropotkin Verbesserungen vor. Das Ziel dieser solle es sein, die Menschen zu befähigen sowohl manuell wie auch gedanklich zu arbeiten. Der Unterricht soll deshalb nicht sturen Vorgaben folgen, sondern viel mehr dazu befähigen Lösungswege selbst zu finden, um ein kritischer Mitdenker/ eine kritische Mitdenkerin sein zu können.

Alle diese Vorschläge verbindet Kropotkin mit der Hoffnung, der „anarchist landscape“ näher zu kommen. Diese zeichnet sich durch gegenseitige Hilfe und Kooperation aus und wird von Menschen bewohnt, die ihre Grundbedürfnisse selber erarbeiten müssen und so erkennen, dass Freizeit und das persönliche Wohlbefinden wichtiger als der Besitz von Konsumgütern ist.

Zentrale Aussagepunkte Reclus
im Textauszug „The Influence of Man on the Beauty of the Earth“

In diesem Ausschnitt widmet sich Reclus der Betrachtung der Zerstörung der Erdoberfläche durch den Menschen und der Geschwindigkeit mit der sich die Natur verändert. Seine Beispiele zeigen ein schlechtes Bild des menschlichen Umgangs mit dem Boden, er geht sogar soweit zu sagen, dass: „mankind has not yet emerged from his primitive barbarism“ (S. 61) und „the universal wish of man is to adapt the earth to his requirements“ (S. 63).

Der Schutz der Erde sei nur dann von Interesse wenn entweder Profit aus den Naturwundern gezogen werden kann oder bei einer grossen kulturellen Bedeutung des Bodens. Denn Reclus ist der Ansicht, dass Menschen mit einem gewissen kulturellem Hintergrund die Wichtigkeit der natürlichen Umwelt besser verstünden. Daraus zieht er den Schluss, dass das Grundelement der Bildung das Kennenlernen der Naturwunder sein muss. Eine Bildung, deren Ziel es sein soll freie Nationen, Gerechtigkeit und Frieden zu erlangen, denn nur so kann die Welt „überleben“. Diese Aussagen untermalt Reclus mit den Ansichten Kropotkins, der davon ausgeht, dass freie, entscheidungsfähige Menschen eher mit Bedacht handeln, da sie wissen welche Konsequenzen ihr Tun auf die Anderen haben kann.

Nach den Betrachtungen zum momentanen Umgang mit der Natur ruft Reclus zu einem Reinterpretieren der Vergangenheit und zu einer Restrukturierung der Geographie als Disziplin auf. Denn der ideologische Inhalt, der intellektuelle Ballast und der soziale Kontext wurde zu lange nicht beachtet. Ausserdem ist es wichtig alternative Gedankengänge, wie diejenigen Kropotkins, die ihrer Obskurität wegen in Vergessenheit gerieten, neu zu hinterfragen.

Dies führt dazu, dass die Geographie die Rolle des Bindeglieds zwischen Natur und Gesellschaft einnehmen sollte. Denn diese Rolle entspräche nach Reclus viel mehr der Disziplin, als lediglich Nationen und den Zustand der Erde zu beschreiben.

Diskussionspunkte und Thesen
• Umgang mit der Natur: Reclus sprach vom Menschen als Barbaren, der die Natur beherrschen will und auch Kropotkin sah in der Gesellschaftsform viel Reformbedarf. Welche Verbesserungen im Bildungswesen schlugen die Beiden vor?

Neben dem Umgang der Gesellschaft mit der Natur wurden die menschenunwürdigen Produktionsmechanismen, von Kropotkin für einen zukünftigen Zusammenbruch der bisherigen politischen Systeme verantwortlich gemacht. Jedoch gab es seit der industriellen Revolution ohne Zweifel grosse Veränderungen innerhalb der Arbeitsorganisation. Sind wir Kropotkins Idealen durch die vielfältigen Möglichkeiten des heutigen Alltags (Arbeitswahl, Freizeitgestaltung etc.) näher gekommen?

• Welchen Menschen strebte Kropotkin in seinen Abhandlungen an? Ist dieses Menschenbild durch Veränderungen im Produktionsablauf und den Bildungseinrichtungen zu erreichen, oder würden die nötigen Veränderungen noch weiter gehen?

• Das Ideal der Gesellschaft ist für Kropotkin „a society of integrated, combined labour“ (S. 380) in der jedes Individuum fähig ist alle einzelnen Produktionsschritte nachzuvollziehen und in der die meisten Produkte innerhalb der Produktionsregion konsumiert werden.

In der heutigen, globalisierten Welt wurde der Produktionsvorgang noch undurchsichtiger als zur Zeit Kropotkins. Ist die „integrated, combined labour“ (S. 380) demnach nur Utopie? Oder würde das bessere Verständnis der Produktion unseren Konsum nachhaltiger/ weniger destruktiv machen und ethische Werte verbindlicher werden?

• „Many specialities will arise, some of them more closely connected with History, and others with physical sciences; but it is the true duty of geography to cover all this field at once and to combine in one vivid picture all separate elements of this knowledge, to represent it as an harmonious whole, all parts of which are consequences of a few general principles and are held together by their mutual relations.“

P. Kropotkin, 1885: What Geography Ought to Be. S. 949

Philosophie kann als die Wissenschaft gesehen werden, die dafür sorgt, dass die anderen Wissenschaften verbunden werden/bleiben. Jedoch fehlt ihr der materielle Anknüpfungspunkt. Kann Geographie als praktischer Ansatz der Philosophie alles vereinen und dabei einen Bezug zur materiellen Welt aufrecht erhalten? Was bedeutet die Aussage Kropotkins für die Geographie als Disziplin und inwieweit hat sie Konsequenzen für geographisches Tun?

Quellen
Kropotkin, Peter (1913): Decentralisation, Integration of Labour and Human Education, In: Peet, Richard (1977): Radical Geography. Alternatie viewpoints on contemporary social issues, Chicago: Maaroufa Press, S. 378-387.
Reclus, Elisée (1895): The Influence of man on the Beauty of the Earth, In: Peet, Richard (1977): Radical Geography. Alternatie viewpoints on contemporary social issues, Chicago: Maaroufa Press, S. 378-387.

Weiterführende Literatur
Kropotkin, Peter (2005): Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt: Trotzdem Verlag.
Kropotkin, Peter (2006): Der Anarchismus. Ursprung, Ideal und Philosophie, Frankfurt: Trotzdem Verlag.


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