Die Wut der verlorenen Generation

Peter Nonnenmacher, Tages-Anzeiger, 10.08.2011

Die Gewaltorgien weiten sich wie ein Flächenbrand über die britischen Städte aus. Am Ursprung der Krawalle stehen Arbeitslosigkeit, soziale Entfremdung und unerbittliche staatliche Kürzungen.



Lodernde Strassenzüge, verkohlte Häuser, geplünderte Läden, zertrümmerte Existenzen. Nächtliche Schlachten Tausender junger Kapuzenmänner mit der Polizei. Etwas von dieser Grössenordnung und Dramatik haben die Briten auf ihrer Insel seit dreissig Jahren nicht mehr erlebt. Mitten im August hat die reinste Notstandsstimmung das Vereinigte Königreich befallen. Was vergangene Woche mit einem bescheidenen Protestmarsch auf eine Polizeiwache im Londoner Stadtteil Tottenham begann, hat sich binnen weniger Tage in einem Feuerwerk gewalttätiger Auseinandersetzungen, in einem Aufruhr sondergleichen entladen.

Nicht nur ein rundes Dutzend Londoner Stadtteile – viele der ärmeren Bezirke an der Themse – hat der Krawall erfasst. Bis Bristol, Birmingham und Liverpool reichen die Unruhen mittlerweile. Andere britische Grossstädte befürchten schon das Schlimmste. Die Polizei ist offenkundig überfordert. Die Zahl derer, die an den Krawallen beteiligt sind, hat Regierung und Behörden sichtlich überrascht. Überrascht hat auch die rücksichtslose Wut, mit der die Betreffenden ihre eigenen Wohnbezirke in Schutt und Asche legen. Zugleich hat die Mobilität der jungen Aufrührer, ihre technologische Finesse, die Beamten von Scotland Yard plötzlich in die Defensive gedrängt. Mit «Blackberry-Riots» hatte man es Anfang der 80er-Jahre in Brixton und Toxteth noch nicht zu tun.

Ein wachsendes Gefühl der Bedrohung hat sich bürgerlicher Viertel Britanniens in dem Masse bemächtigt, in dem plötzlich auch vereinzelte Läden im Reichenstadtteil Chelsea oder West-Londons Konsumtempel Westfield Opfer der Unruhen und Plünderungen geworden sind. Die politische Führung des Landes hat diesen Eindruck, dass sich das gesetzestreue England in Gefahr und in einer Art Belagerungszustand befinde, zu Wochenbeginn bewusst verstärkt. Tory-Premierminister David Cameron, am Dienstag widerwillig vom Tennisspielen in der Toskana nach London zurückgekehrt, sagte den Plünderern und Randalierern einen kompromisslosen Kampf an. Er kam damit knapp seinem Parteikollegen, Londons Bürgermeister Boris Johnson, zuvor, der sich ebenso zögernd aus Kanada zurückbequemte, um «Recht und Ordnung» an der verunsicherten Heimatfront wieder herzustellen.

Missstände eingeräumt
Auch Vizepremier Nick Clegg, Chef der britischen Liberaldemokraten, sieht in den Krawallen «nicht mehr und nicht weniger als sinnlosen, opportunistischen Diebstahl und üble Gewalt». In der Verurteilung der Gewalt sind sich Politiker aller Couleur mit den Opfern der Ausschreitungen – begreiflicherweise – einig. Wo Geschäfte zerstört und ausgeraubt, Wohnhäuser angezündet, ganze Strassen in Angst und Schrecken versetzt werden, hält sich die Frage nach möglichen Ursachen der Gewalt erst einmal in Grenzen.

Bezeichnenderweise blieb es Londons derzeitigem Polizeichef Tim Godwin vorbehalten, zu einer «Trennung krimineller Tatbestände vom Groll der Betroffenen über gewisse Missstände» zu raten. Dass solcher Groll bei den Unruhen eine Rolle spielt, ist kein Geheimnis. Für alle, die mit den Verhältnissen in den Arbeitslosenghettos Englands vertraut sind, spielt er sogar eine ganz zentrale Rolle bei der Wucht dieses unerwarteten sommerlichen Tobsuchtsanfalls.

Notorische Joblosigkeit und weitflächige soziale Entfremdung, von Kommunalpolitikern wie von Sozialarbeitern seit langem beklagt, bilden tatsächlich den Hintergrund für die gegenwärtige Krawall- und Plünder-Orgie auf Strassen wie denen Tottenhams, Enfields, Hackneys oder Lambeths. Generationen teils schwarzer, aber auch weisser Bewohner sind in Verhältnissen aufgewachsen und bis heute gefangen, die keine Beteiligung an «normaler» gesellschaftlicher Entwicklung, keine Teilhabe am viel verheissenen Nutzen der herrschenden Wirtschaftsordnung erlaubt.

Weiterbildung als Utopie
Ausgeschlossen vom Arbeitsmarkt, auf stetig schrumpfende Sozialhilfe angewiesen und oft auf gewalttätige Subkulturen fixiert, haben sich in den Wohnblocks solcher englischen Suburbs Gruppen gebildet, die keinerlei Hoffnung mehr auf eine helfende Hand des Staates, auf eine eigene Zukunft im Rahmen des Gegebenen hegen. Verschärft hat sich die Situation für diese Bevölkerungsgruppen in jüngster Zeit durch abgeflautes Wirtschaftswachstum und unerbittliche staatliche Kürzungen.

Jobbeschaffungsprogramme sind eingestellt, Jugendzentren geschlossen worden. Bildungsbeihilfen werden unter Cameron abgebaut. Zugang zur Weiterbildung wird als Utopie betrachtet. Zugleich finden sich Arbeitsmöglichkeiten für die «ausgeklinkten» Schichten immer weiter eingegrenzt. Im Nordlondoner Bezirk Haringey zum Beispiel, dessen Zentrum Tottenham bildet, ist die Zahl der Jobsuchenden in den letzten Monaten drastisch in die Höhe geschnellt. Die Zahl der Diebstähle und Raubüberfälle ist im gleichen Bezirk seit vorigem Sommer um über ein Drittel angestiegen.

Es braucht keine Soldaten
Im Nachbarbezirk Enfield sind einige der schlimmsten Messerstechereien durch Jugendgangs verübt worden. Für die wohlhabenden Schichten in ihren sicheren Quartieren waren das Ereignisse, die sich ebenso gut auf einem fernen Planeten hätten abspielen können. Nun schwappt die Gewalt der vergessenen Suburbs zum Schrecken der ganzen Nation auf andere Landesteile über. Mitentfacht hat den Funken, durch unprovozierte Todesschüsse und erstaunliche Arroganz gegenüber der Familie des Opfers, die Londoner Polizei. Zwar ist den Polizisten der britischen Hauptstadt nicht mehr im gleichen Masse rassistisches Denken vorzuwerfen wie ihren Kollegen zu Beginn der Ära von Margaret Thatcher. Doch ein Problem sind die Beziehungen zwischen den Ordnungshütern und den Bewohnern der verarmten Viertel Englands offenkundig geblieben.

Nun einfach mehr Polizisten gegen den aufgeschäumten «Groll» in die grosse Schlacht zu werfen, wird die Konflikte, die den Krawallen zugrunde liegen, jedenfalls nicht lösen. Gewiss lässt sich in einem ungesetzlichen Raum, egal unter welcher Regierung, nicht leben. Mit ihren nächtlichen Feldzügen zerstört die Kapuzenbrigade alle Brücken, die um Verständnis bemühte Landsleute ihr zu bauen suchen. Kaum hilfreicher ist indes ein politisches Getrommel, das schon mit dem Anrücken der Armee droht. Dieser englische Sommer braucht keine Soldaten, sondern die Eindämmung eines gefährlichen Konflikts: Sonst schlagen die Flammen noch sehr viel höher – möglicherweise mit fatalen Folgen für die ganze Gesellschaft.


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