Die Siedlung Stöckacker-Süd in Bern geht dem Ende zu - Soziale Aufwertung kommt

Die Geisterstadt im Stöckacker-Süd

Rahel Bucher, Der Bund, 15.01.2013

Immer weniger Leute leben in der Siedlung an der Berner Bethlehemstrasse. Das einst viel belebte Viertel geht still und fast widerstandslos seinem Ende entgegen


Bildquelle: Der Bund, Adrian Moser

Ein paar Bäume warten auf ihren Kahlschlag, die neun Wohnblöcke rund um den Park ebenso. Viele Mieter sind längst ausgezogen, Blumentöpfe leer und Fensterläden geschlossen. Für immer. Zwischendurch zeugt ein Spitzenvorhang am Fenster davon, dass hinter der Fassade doch noch Menschen leben. Noch bis Ende April 2013, dann müssen die alten Häuser dem städtischen Bauprojekt Stöckacker-Süd weichen. Einer dieser Menschen, die bis zum bitteren Ende bleiben, ist der 84-jährige Heinz Keusen. Er sortiert bereits sein Hab und Gut, deponiert Bücherkisten im Treppenhaus. «Es ist niemand mehr im Haus, den ich stören könnte», sagt er. Seit 55 Jahren wohnt er an der Bethlehemstrasse. In seinem Block ist er jetzt der letzte Mieter. Wehmut? «Es muss weitergehen.»

Auszug wegen Einbrüchen
Eine jüngere Frau – die zweitletzte Mieterin in diesem Haus – hat ihre Wohnung vor zehn Tagen «fluchtartig» verlassen, wie sie sagt. Dies nachdem bei ihr zweimal eingebrochen wurde. Ferdinand Raval, Leiter der Liegenschaftsverwaltung, weiss von den Vorfällen. «Mit dem Auszug vieler Mieter nimmt die soziale Kontrolle ab», sagt er. Zudem sei zurzeit eine Anhäufung von Einbrüchen in ganz Bümpliz zu verzeichnen.

Aus Angst vor weiteren Einbrüchen hat die junge Mieterin ihre Wohnung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geräumt, obwohl sie gerne «richtig Abschied» genommen hätte. Zehn Jahre hat sie hier gelebt. Sie schaut aus dem Küchenfenster. Der unbelebte Spielplatz steht noch – ein alter Holzwagen, eine Rutschbahn, dazwischen Baupfeiler. Sie weisen in die Zukunft. In den Frühling 2013 – dann ist voraussichtlich Baubeginn für die neue Siedlung, mit der die Stadt Bern, zum zweiten Mal am selben Ort, als Bauherrin auftritt. Auch 1940 war es die Stadt, welche die 106 Mietwohnungen gebaut hatte. Seither gehörten diese zum günstigen Mietsegment.

Neubau soll kein Satellit werden
«Das hat eine gewisse Symbolik. Ein wohnbaupolitisches Zeichen wird der Gemeinderat auch diesmal setzen – vor allen Dingen bezüglich Qualität und sozialer Verantwortung», wird Stadtpräsident Alexander Tschäppät auf der Internetseite des Wohnbauprojekts zitiert. Doch gerade die soziale Verantwortung wurde im Vorfeld der Volksabstimmungen (Box) über die Realisierung der städtischen Neubausiedlung bemängelt.

So kritisierten die Gegner der Vorlage, dass durch den Abriss der Siedlung günstiger Wohnraum vernichtet würde. Auch die Quartierkommission Bümpliz/Bethlehem (QBB), die den Neubau der Siedlung zwar befürwortet, steht den sozialen Auswirkungen des Projekts zwiespältig gegenüber, wie Geschäftsführerin Nathalie Herren sagt. Es werden sich hauptsächlich Gutverdienende die Wohnungen leisten können, ist sie überzeugt. Zudem sei die Neubausiedlung ein starker Eingriff ins Quartier und werde eine ganz andere Zusammensetzung von Leuten mit sich bringen. «Die dadurch gewollte soziale Durchmischung produziert immer auch Verlierer», sagt Herren. So ist es der QBB etwa ein Anliegen, dass die neue Siedlung nicht zu einem Satelliten wird, der abgeschottet vom restlichen Quartier in der Gegend steht. Stattdessen wünscht sie sich eine Verzahnung der Siedlung mit dem ganzen Stöckacker-Quartier.

Null Widerstand aus der Siedlung
Seitens der Mieter hat sich kaum Widerstand geregt. Grund dafür ist laut Herren zum einen die Zusammensetzung der Anwohnerschaft. Es sind eher alte Menschen und Familien mit Migrationshintergrund, die im Stöckacker leben. «Gerade diesen Gesellschaftsschichten fehlt es oft an persönlichen, politischen und sprachlichen Möglichkeiten, sich zu wehren», sagt Herren. Zum anderen erklärt sie sich die Akzeptanz mit der Informationspolitik der Stadt. Diese habe die Bewohner frühzeitig informiert und setze sich dafür ein, dass es zu keinen Härtefällen komme. Ebenso sei die Politik sehr früh einbezogen worden. So wurde die Vorlage von einer breiten Koalition von Parteien unterstützt.

In der Siedlung an der Bethlehemstrasse dagegen scheinen sich über die Jahre keine Koalitionen oder gar eine gemeinsame Identität entwickelt zu haben. «Früher war das anders», sagt Keusen dazu. Als noch Bähnler und Trämmler hier lebten, habe man sich zum Jass getroffen und noch etwas voneinander gewusst. Dann seien die Italiener gekommen, Tamilen und Inder. «Dass zwischen alteingesessenen Schweizern und Familien mit Migrationshintergrund eine Kluft besteht, ist ein Problem, das nicht nur den Stöckacker-Süd betrifft», sagt Herren. Sowohl die junge Mieterin als auch Keusen sagen, dass man zwar friedlich nebeneinander, aber nicht miteinander gelebt habe. «Einzig das Gelächter der Kinder auf dem Spielplatz, das haben alle mitbekommen», sagt Keusen.


Infobox

Stöckacker-Süd: 146 neue Wohnungen

Nachdem die Stimmberechtigten der Stadt Bern bereits im Juni 2012 die Überbauungsordnung angenommen hatten, genehmigten sie im September 2012 auch den Baukredit von 70 Millionen Franken für den Ersatzneubau Stöckacker-Süd. Der Baubeginn ist für den Sommer 2013, der Erstbezug der Wohnungen für den Frühling 2015 vorgesehen.Der Ersatzneubau sieht drei neue Häuser mit insgesamt 146 Wohnungen vor.

Es entstehen 88 Geschosswohnungen mit 3 bis 6 Zimmern, 32 Alterswohnungen mit 1 ½ bis 3 Zimmern und 26 sogenannte Town Houses. Das durch den öffentlichen Verkehr gut erschlossene Quartier wird unter Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien von Minergie-P-Eco und den Zielvorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft errichtet. Die jetzigen Mieter sollen bei der Vergabe der neu gebauten Wohnungen bevorzugt behandelt werden, bestätigt Fernand Raval, Leiter der Liegenschaftsverwaltung der Stadt Bern. Doch durch die höheren Mietpreise dürfte das im Fall Stöckacker-Süd kaum jemanden betreffen. «Neu gebaute Wohnungen sind selbstverständlich teurer als diejenigen, die der Mieter aufgrund des Neubaus verlassen musste», teilt Raval mit. Für Mieter, die selber keine Lösung finden, will die Stadt eine Wohnung aus dem Portfolio des Fonds zur Verfügung zu stellen.


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