Der letzte Widerstand

Dario Venutti, 29. Januar 2011

Am Tessinerkeller entzündet sich wieder einmal die Diskussion über die Gentrifizierung Zürichs. Die Besetzer des Lokals werden von etablierten Leuten unterstützt. Doch der Abriss scheint unausweichlich.
Tanz ums goldene Kalb: Das Areal der früheren «Räuberhöhle» in Aussersihl ist seit zwei Wochen besetzt.


Tanz ums goldene Kalb: Das Areal der früheren «Räuberhöhle» in Aussersihl ist seit zwei Wochen besetzt.

Allzu viel Geschichtsbewusstsein möchte man der jüngsten Generation von Hausbesetzern ja gar nicht attestieren. Aber einen Sinn für Symbole hat «Familie Lang», wie sich die 20 bis 30 Aktivisten nennen, allemal: Vor zwei Wochen besetzte sie das Areal des Tessinerkellers an der Neufrankengasse. Kaum ein anderes Lokal im Langstrassenquartier verkörpert seit Kurt Frühs Filmen «Hinter den sieben Geleisen» und «Bäckerei Zürrer» aus den 50er-Jahren das, wofür «Chreis Cheib» steht: eine Gegend, in der auch Clochards, Tagelöhner und Alkoholiker Platz haben. Wie in der früheren «Räuberhöhle».

Doch dieser Charakter des Langstrassenquartiers verschwindet allmählich. Was die Stadtregierung Aufwertung nennt, sehen die Besetzer als «soziale Säuberung», wie es einer von ihnen sagt, der als Herr Lang bezeichnet werden will. Die steigenden Mieten würden Menschen in prekären Verhältnissen zwingen wegzuziehen: Alte, Arme, Ausländer. Um ein Zeichen zu setzen, hätten sie das Areal des Tessinerkellers besetzt, sagt Herr Lang. Die Besetzer sind wache, junge Menschen, aber gleichermassen Outlaws wie die Besucher des Tessinerkellers in den 50er-Jahren.

Ein verlorener Kampf

Die Besetzung ist ein letzter Akt in einem Kampf, der wohl schon längst verloren ist. Das Gebäude wird im Februar abgerissen, weil dort die Baustellenzufahrt für die SBB-Überbauung «Urban Home» durchführen soll, wo bereits 4,5-Zimmer-Wohnungen für 2,5 Millionen Franken verkauft wurden. Trotzdem mobilisiert das bevorstehende Ende nochmals verschiedene Gruppierungen: die Besetzer, den Verein «Neufrankenschneise Nein», Politiker aus der Alternativen Liste, Stadtforscher. Zusammen organisieren sie heute Samstag einen Rundgang durch den Kreis 4, an dem die Veränderungen im Quartier gezeigt und erklärt werden.

«Die Besetzung ist ein politischer Akt. Sie zeigt, dass man das Quartier noch nicht aufgegeben hat», sagt Reto Plattner vom Verein «Neufrankenschneise Nein». Der Verein verlor 2008 das Referendum gegen die neue Baulinie, die zum Abriss des Tessinerkellers führen wird. In den Kreisen 4 und 5 hingegen wurde das Referendum mit 55 Prozent angenommen.

Folgen der «Aufwertung»

Plattner erlebt derzeit am eigenen Leib, was die Aufwertung auch mit sich bringt: Er musste ausziehen, weil die Wohnung saniert wird. Die neue Miete würde er nicht zahlen können. Gegenwärtig nomadisiert er von Freund zu Freund. Menschen mit seinem sozialen Profil würden nur noch in Leimbach eine bezahlbare Wohnung finden, sagt er. Doch Plattner möchte dort bleiben, wo sein Leben stattfindet – genauso wie die Migros-Kassiererin aus der Türkei oder der Bauarbeiter aus Kosovo.

Auch die Besetzer wollen sich nicht vertreiben lassen. «Das Areal soll ein undefinierter Raum sein, in dem sich jeder einbringen kann», sagt Herr Lang. In den letzten beiden Wochen fanden zwei Konzerte und ein eingeschränkter Barbetrieb statt. Für Leute, welche an der Atlantis-Besetzung fröhliche Partys feierten, war das bisher zu wenig. Doch die Besetzer möchten keinen weiteren Beitrag leisten zum «Disneyland an der Langstrasse». «Wenn das Partyvolk kommt, machen wir den Laden dicht», sagt Herr Lang. Sie planten keine Veranstaltungen, die auf Ron Orp angekündigt werden. Wovor sich die Besetzer fast genauso fürchten wie vor einer Räumung: Subkultur genannt zu werden, mit dem die Stadt in ihren Broschüren Standortwerbung mache. Wie beim besetzten Gebäude in der Binz.

Verhärtete Fronten

Laut Plattner müsste man den Tessinerkeller und die dahinter liegende frühere Bombaybar noch gar nicht abreissen. Bis zu einem rechtsgültigen Bauprojekt auf dem Areal würden noch Monate vergehen, während denen man das Lokal weiternutzen könnte. Die Besetzer glauben nicht, dass die Baustellenzufahrt zur SBB-Überbauung just über das Areal führen müsse. «Das ist ein vorgeschobenes Argument», sagt auch Reto Plattner. Die Zufahrt wäre links vom Restaurant Straycat möglich.

Die Architektin Vera Gloor, die Vertreterin der Liegenschaftsbesitzer, widerspricht dem. Der Abbruch des Tessinerkellers sei nicht mehr zu verschieben, weil man an den Mietvertrag mit den SBB für die Baustellenzufahrt gebunden sei. Und links vom Restaurant Straycat könnten wegen der Tiefgarage keine Lastwagen durchfahren.

Architektin Gloor wehrt sich

Gloor sagt, sie sei nicht das richtige Feindbild, um an ihm die Probleme der Gentrifizierung festzumachen. Sie werde voraussichtlich im Sommer ein Bauprojekt eingeben, das sich nicht in erster Linie an den sogenannten neuen urbanen Mittelstand richte: also an Anwälte, Grafiker, Ärzte. Sondern an Alte und Auszubildende, die für einen Mietzins von 1000 bis 1200 Franken pro Zimmer und Gemeinschaftsraum dort wohnen könnten. «Falls die Besetzer nicht freiwillig gehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen», sagt Gloor. Die Deadline ist am nächsten Dienstag.

Quartierrundgang heute Samstag, Besammlung auf dem Helvetiaplatz, 15 Uhr.

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