Argentinien - Ausufernde Gewalt gegen MigrantInnen

Sandro Benini, Tages Anzeiger, 20.12.2010
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Am vergangenen Freitagnachmittag hat es wieder Aufruhr gegeben in Buenos Aires. Fünf Tage zuvor hatten Bewohner eines Elendsviertels im Stadtteil Villa Lugano einen Sportplatz besetzt und begonnen, Baracken zu errichten – zum Entsetzen der Anwohner, die miterleben mussten, wie die Armen aus ihrem Ghetto ausbrachen und sich zwischen einstöckigen Arbeiterhäuschen und braunen Wolkenkratzern ausbreiteten.

Aufgebrachte Hausbesitzer
Den richterlichen Räumungsbefehl haben die Besetzer ignoriert, und so versuchen nun die Nachbarn, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Vermummte Jugendliche werfen Steine und Flaschen gegen den besetzten Platz, von zwei brennenden Autoreifen steigt schwarzer Rauch auf, dazwischen stehen Hausfrauen und ältere Herren mit zerzausten Haaren, karierten Hemden, hellgrauen Schlüpfschuhen. «Wir müssen dieses Pack vertreiben», schreien sie. Eine junge Frau schwenkt eine argentinische Fahne. «Das ist mein Land, und es kotzt mich an, wenn Bolivianer und Paraguayer hier ihre Hütten aufstellen.»

Ein Rentner sagt, er habe sich vor kurzem ein kleines Haus kaufen können – «Was glauben Sie, wie viel es jetzt noch wert ist mit diesem Gesindel nebenan?» Dann brüllt er einen Radioreporter an, weil der gerade ins Mikrofon gesagt hat, unter den Besetzern seien auch Familien. «Das sind doch keine Familien, das sind vermummte Verbrecher!» Auf dem Platz sind Dutzende von Gestalten zu erkennen, die ihrerseits mit Gegenständen schmeissen. Polizisten schauen minutenlang zu, dann bilden sie einen Cordon, um die verfeindeten Gruppen zu trennen. Das sei typisch, ereifert sich ein Anwohner. Statt das Recht durchzusetzen, würden die Ordnungskräfte diese Leute schützen.

Kampf auf höchster Ebene
Argentinien erlebt gegenwärtig ein soziales Drama, in dem sich die Stadtregierung von Buenos Aires unter dem rechten Bürgermeister Mauricio Macri und die Landesregierung unter der linken Präsidentin Cristina Fernández gegenseitig mit Beschuldigungen eindecken. Es kursieren Verschwörungstheorien, die Zeitungen schreiben von der «Favelisierung» der Hauptstadt, in Anspielung an die Elendsviertel in Brasilien. Arme bekämpfen noch Ärmere, und dazu debattiert die Öffentlichkeit im traditionellen Einwandererland Argentinien über Rassismus und die Migration aus den Nachbarstaaten.

Begonnen hat alles im «Parque Indoamericano», einer verwahrlosten Grünfläche von 120 Hektaren, die einst als Erholungsraum für Familien vorgesehen war. Anfang Dezember besetzten sie 6000 Personen aus den umliegenden Elendsvierteln. Laut offiziellen Angaben waren 70 Prozent Ausländer. Als Einheiten der nationalen und der städtischen Polizei einschritten, wurden zwei Einwanderer erschossen, mutmasslich von den Ordnungskräften. Präsidentin Fernández weigerte sich, ihre Uniformierten weiter zum Zweck der «sozialen Repression» einzusetzen, da ihr das bei linken Stammwählern, Studenten, Intellektuellen und sozialen Hilfsorganisationen Sympathien gekostet hätte.

Gegenseitige Beschuldigungen
Die Stadtregierung solle das Problem allein lösen. Bürgermeister Mauricio Macri, der kommendes Jahr voraussichtlich als Präsidentschaftskandidat gegen Fernández antreten wird, erwiderte, die städtische Polizei sei ausserstande, den Park allein zu räumen.Während lokale und nationale Behörden stritten, lieferten sich Anwohner und Besetzer nächtelang Strassenschlachten, bei denen auch Fussball-Hooligans mitwirkten und ein weiteres Todesopfer zu beklagen war. Erst als man den Besetzern staatliche Wohnhilfe versprach, zogen sie sich binnen weniger Stunden zurück. Seither beschuldigen sich Fernández und Macri gegenseitig, die Gewaltexzesse durch zwielichtige Mittelsmänner provoziert zu haben. Vor allem aber ist es in Buenos Aires und mittlerweile auch in anderen Städten zu dreissig weiteren Besetzungen gekommen, wie jene im Stadtteil Villa Lugano.

Als Mauricio Macri bei einem Auftritt die «unkontrollierte Einwanderung» beklagte, nannte ihn Fernández einen Rassisten. Linke Gruppierungen riefen zu Demos auf, die Botschafter Boliviens und Paraguays forderten eine Entschuldigung. «Es ist das erste Mal, dass sich ein Politiker offen gegen die Migrationspolitik der Regierung stellt», sagt der Experte Diego Morales. Während Argentinien im letzten Jahrhundert eher restriktive Einwanderungsgesetze besass und Zuzüger aus Europa begünstigte, vollzog der damalige Präsident und Ehemann von Fernández, der kürzlich verstorbene Néstor Kirchner, 2006 mit dem Programm «Grosses Vaterland» eine Wende: Eine Million Einwanderer konnten ihren Status legalisieren, und seither dürfen sich Bürger aus den Mercosur-Ländern sowie aus Nationen, die mit der Organisation assoziiert sind, niederlassen. Dazu gehören Brasilien, Paraguay und Uruguay als Vollmitglieder sowie Chile, Kolumbien Ecuador, Peru und Bolivien als Assoziierte.

Fremdenhass wird geschürt
Schätzungen zufolge stammen mittlerweile zehn Prozent der in Argentinien lebenden Bevölkerung aus Paraguay, Bolivien oder Peru. Allein die Zahl der Bolivianer beläuft sich auf rund 2 Millionen. Sie schlagen sich als Strassenhändler, Früchteverkäufer, Putzkräfte oder Handwerker durch und gelten bei den Einheimischen eigentlich als fleissig. Allerdings ist der Buenarenser Bevölkerungsanteil, der in Elendsvierteln lebt, während der letzten neun Jahre um 40 Prozent gestiegen. Einer Umfrage zufolge findet mittlerweile jeder dritte Argentinier, Einwanderer sollten keine Sozialhilfe erhalten. Während Politiker die illegalen Besetzungen für ihre Ränkespiele missbrauchen, schüren die täglichen Gewalttaten den Fremdenhass. (Tages-Anzeiger)


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