Fussball-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 - Rio wertet auf!

Es lebe die Favela!
Martin Läubli, Tages-Anzeiger, 12.07.2012

Rio de Janeiro wertet mit Blick auf die Fussball-WM und die Olympischen Spiele Armenviertel auf. Die ETH Zürich will sich diese Erfahrungen für den Städtebau zu Nutze machen.

Jenaro da Silva sitzt entspannt auf der Holzbank vor seiner Garage. Vor ihm Hanteln, ein Hometrainer und ein ganzer Park von Geräten für das Krafttraining. «Für meine Hausnachbarn, gratis», sagt er. In der Garage steht frisch poliert ein schwarzer Toyota. Der durchtrainierte Mann ist Inspektor bei der Zivilpolizei. Wir treffen ihn zufällig auf einem Spaziergang mit dem ETH-Architekten Rainer Hehl durch Cidade de Deus, die Stadt Gottes, von der man sagt, der Name hätte den Menschen Hoffnung machen sollen.

«Die Regierung verpflanzte vor bald 50 Jahren die Ärmsten aus der Stadtmitte von Rio de Janeiro in Sozialwohnungen an der Peripherie», sagt Hehl. Das städtebauliche Konzept während der Militärdiktatur in Brasilien Anfang der 60er- bis Mitte der 80er-Jahre hiess: Räumung und Repression. Die Stadt sollte Platz haben für Wirtschaftswachstum, für den Ausbau der Infrastruktur und grosser Industrieanlagen. «Es wurden 140'000 Menschen aus 80 Favelas vertrieben», sagt Hehl.

Leben in der Stadt Gottes
ETH-Architekt Rainer Hehl hat sich ein Jahr lang in verschiedenen Armenvierteln von Rio aufgehalten, um die Organisation dieser Schattenwelt, die Menschen dort und deren Lebensweise zu studieren. In seiner Dissertation zeichnet er ein detailliertes Bild über die Wohnpolitik in Rio de Janeiro, die durch politische und ökonomische Entwicklungen getrieben wurde. Heute leitet Hehl das Nachdiplomstudienprogramm Master of Advanced Studies in Urban Design am Lehrstuhl von Professor Marc Angélil an der ETH Zürich – mit Fokus auf den brasilianischen Städtebau. «Favelas leben, Cidade de Deus war keine Favela, es war eine tote Wohnsiedlung, ein Ghetto», sagt Hehl.


Siedlung der 1960er Jahre

Die Stadt Gottes steht stellvertretend für das Schicksal vieler Armenviertel der brasilianischen Megastadt. Sie wurden abgerissen und die Menschen in Siedlungen gesteckt, die nach dem Vorbild amerikanischer Vorstädte gebaut wurden: modernistische Architektur, monotone Wohnsilos und normierte Einfamilienhäuschen. In Cidade de Deus gab es kein Gewerbe, keine Anbindung an das Stadtzentrum, keine öffentlichen Plätze. Soziale Netzwerke wurden zerstört. Die Stadtregierung baute eine Wohnlandschaft für 10'000 Menschen, heute leben hier offiziell 39'000 Menschen.

Prekäre Wohnsituation ist typisch für Entwicklungs- und Schwellenländer
Die brasilianischen Stadtregierungen waren überfordert. Millionen Immigranten suchten das Glück in den Städten. In Rio kam es zu einem unkontrollierten Wildwuchs illegaler Häuser. «Die extreme Topografie Rio de Janeiros bereitete der Stadt in ihrem Expansionsdrang grosse Schwierigkeiten», sagt Hehl. Aus Sicherheitsgründen sei es in Regionen, die mehr als 50 Meter über dem Meeresspiegel liegen, verboten gewesen zu bauen, «dieses Land war also verfügbar». So entstanden Favelas an gefährlichen Hängen. Die bekannteste liegt im Süden Rios, an der Küste. In Rocinha leben schätzungsweise 200'000 Menschen auf engstem Raum. Die Stadtplaner sprechen von informellen Siedlungen, wo die Menschen für ihr Überleben ihre eigenen Regeln und Gesetze aufgestellt haben.

Die prekäre Wohnsituation ist typisch in Städten von Entwicklungs- und Schwellenländern – und sie wird sich in Zukunft verschärfen. Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in urbanen Siedlungen. Ein Drittel dieser städtischen Bevölkerung wohnt in sogenannten informellen Siedlungen, Slums und Favelas. Das UNO-Programm für Siedlungsentwicklung prognostiziert, dass es in etwa 20 Jahren bereits die Hälfte sein wird.

Inzwischen ist in Cidade de Deus Leben eingekehrt
«Plötzlich organisiert sich die Stadt selbst. In vielen Ländern ist das die einzige Möglichkeit, die Leute mit Wohnraum zu versorgen», sagt Rainer Hehl. In dieser Selbstorganisation sieht er die Chance, um der Entwicklung wuchernder Slums eine Ordnung zu geben. «Sobald es demokratische Strukturen gibt, sind Favelas die Lösung und nicht das Problem.»

Cidade de Deus ist ein gutes Beispiel, da sich dieser Prozess in einem geplanten Wohnbezirk abspielte. Der Polizeibeamte Jenaro da Silva wohnt seit über 40 Jahren in einem der vielen normierten Wohnblocks. «Zuoberst, im 5. Stock», sagt er. Inzwischen ist aus der öden Wohnlandschaft ein lebendiges Quartier geworden. Zwischen den Häuserzeilen sind Märkte und Reparaturwerkstätten entstanden. Ein kleiner Park ziert das Haus von Jenaro. Über die Vergangenheit will er nicht mehr sprechen. Nur dies sagt er: «Schreibt mal etwas Gutes über uns.»

Ein Quartier von üblem Ruf
Der Ruf der Favelas sei nach wie vor schlecht, seit ihrer Entstehung vor über hundert Jahren würden sie als Geschwüre betrachtet, die den Stadtorganismus bedrohen, sagt Hehl. Cidade de Deus gehörte vor wenigen Jahren noch zu den berüchtigtsten Stadtquartieren Rio de Janeiros. Die politische Demokratisierung und gesellschaftliche Liberalisierung nach der Militärdiktatur in den 80er-Jahren brachte den Stadtbewohnern zwar mehr Eigenverantwortung, doch die wirtschaftliche Not in den abgelegenen Armenbezirken war ohne Polizeikontrolle ein Nährboden für Kriminalität und die internationale Drogenmafia. Sie kontrollierte auch die Cidade de Deus mit blutiger Gewalt.

Der Roman «Die Stadt Gottes» von Paulo Lins über das brutale Leben unter dem Diktat der Mafia und dessen Verfilmung machte die Favela weltberühmt und berüchtigt. Seit drei Jahren ist Cidade de Deus – wie andere Favelas – sogenannt pazifiziert. Das heisst: Militäreinheiten nahmen die Stadt für Monate ein und durchstöberten jeden Haushalt, der verdächtig war, mit der Mafia zusammenzuarbeiten. Heute überwacht ein grosses Polizeiaufgebot den Bezirk.

60'000 Polizisten sollen weitere Favelas befrieden
Die Gottes-Stadt hat sich seither vom eintönigen Wohnquartier zu einer urbanen Siedlung gewandelt. Das Zentrum lebt, die Strassen sind ausgebaut, es gibt eine Strassenbeleuchtung, breite Trottoirs sind entstanden, die Läden bieten alles an, was das moderne Leben verlangt. Es gibt Schulen, Kindergärten, öffentliche Plätze, Abfall- und Abwassersysteme. Was Stadtplaner in den 60er-Jahren empfahlen, scheint die Stadtregierung nun zu beherzigen.



Zahlreiche Favelas sollen nun mit Blick auf die bevorstehenden internationalen Grossanlässe – Fussball-WM 2014 und Olympische Spiele 2016 – pazifiziert und aufgewertet werden. Die Regierung will unter anderem in den nächsten vier Jahren 7 Millionen Franken investieren, um 60'000 Polizeibeamte für die Pazifizierung auszubilden.

Stadtplaner in der Favela
Das ist Stadtmarketing und Imagepflege. Doch für die ETH-Architekten und Stadtplaner sollten diese Megaanlässe auch eine Chance sein, Rio zu einer umfassenden Stadtentwicklung zu verhelfen. Dabei spielen die Favelas eine Schlüsselrolle. Im Studio-X, einem Ableger des internationalen Netzwerkes für Stadtentwicklung der amerikanischen Columbia University, präsentierten Absolventen des ETH-Nachdiplomstudienganges für Stadtdesign am Rande des UNO-Erdgipfels von Rio einen Katalog an Ideen, wie zum Beispiel Cidade de Deus architektonisch und städteplanerisch nachhaltig aufgewertet werden kann.

«Eine Favela ist grundsätzlich ein unfertiges Projekt. Ein Haus wird gebaut und weiter gebaut», sagt Hubert Klumpner, ETH-Professor für Architektur. Er beschäftigte sich fünfzehn Jahre lang mit Städtebau in Caracas. Cidade de Deus ist ein geeignetes Freiluftlabor, weil hier die Menschen selbstständig soziale Netze und Gewerbe aufbauten und die Siedlungsstruktur nicht sehr dicht ist.

Und: In informellen Siedlungen gibt es keine vorgeschriebenen Normen. «Nur in einem freien Raum, wo nichts existiert, ist alles möglich. Man kann hier Vorschläge machen, die auch in anderen Städten ihre Bedeutung haben können», sagt Klumpner. Die Menschen würden hier ihren eigenen Weg gehen, meint Rainer Hehl. «Wir wollen ihnen Empfehlungen geben, wie man sich besser organisiert, welche Materialien sie beim Häuserbau verwenden sollen.»

Keine Elendsviertel
Theresa Williamson von der Nichtregierungsorganisation Catalytic Communities beobachtet seit langem die Entwicklung des modernen Städtebaus. Die Vorschläge der ETH-Architekten überzeugen sie. «Sie haben sich auf die Bedürfnisse und Traditionen der Einwohner eingelassen, das zeigen die Vorschläge zur Verkehrsführung oder zum sozialen Raum beim Häuserbau.»

Auch finanziell sei die Umsetzung durchaus möglich. Ein Teil der Bewohner bräuchte wohl die Unterstützung der Regierung, doch die meisten hätten ein Einkommen. «Favelas sind keine Elendsviertel, Sie sehen hier Fernseher, man hat Satellitenempfang. Fast die Hälfte der Haushalte hat einen Computer.» Das grosse Problem sieht sie nach wie vor bei der Mitsprache der Menschen. Zu viel werde von der Regierung diktiert, und die Korruption grassiere. «Das führt zu Entwicklungen an den Bedürfnissen der Menschen vorbei», sagt Theresa Williamson.

Mehr als 1'000 Favelas in Rio
Jenaro da Silva, der Polizeiinspektor, gehört zur unteren Mittelschicht. Favelas sind nicht mehr nur Ort der Ärmsten. «Sie sind auch attraktiv für Menschen mit höherem Einkommen geworden», sagt Rainer Hehl. Ob die einst berüchtigte Cidade de Deus für die Stadtregierung zum Vorbild wird, weiss er nicht. Es gibt mehr als 1'000 Favelas in Rio – die meisten sind nach wie vor unter der Kontrolle der Drogenmafia. (Tages-Anzeiger)


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